




Die SPD schaut zurück. Auf 150 Jahre Vergangenheit. Auf stolze Momente. Auf den 10. Dezember 1971 etwa, als Bundeskanzler Willy Brandt in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennimmt. Brandt kniete zuvor vor dem Ehrenmahl des Ghettos in Warschau, schloss einen Friedensvertrag mit der Sowjetunion und näherte die Bundesrepublik und die DDR an. Oder auf den 9. November 1918, als SPD-Politiker Philipp Scheidemann das Ende des Deutschen Kaiserreichs verkündet und damit Karl Liebknecht zuvorkommt, der ein sozialistisches Deutschland gründen wollte. Neben all den symbolträchtigen Tagen hat sich die deutsche Sozialdemokratie im 19. Und 20. Jahrhundert stets für die Industrialisierung und Modernisierung des Landes eingesetzt – und so einen Beitrag geleistet, dass Deutschland Wohlstand erwirtschaften bzw. erhalten konnte. Zuletzt mit der Agenda 2010.
Keine Frage: Deutschland hat der SPD viel zu verdanken. Doch das ist Geschichte, neue richtungsweisende Initiativen, die das Land positiv verändern, sind nicht in Sicht. Die Partei steht 150 Jahre nach ihrer Gründung vor dem Sturz in Richtung Bedeutungslosigkeit. Die Mitglieder laufen ihr in Scharen davon, die CDU ist inzwischen größer als die Sozialdemokratische Partei Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2009 wählten nicht einmal zehn Millionen Menschen per Zweitstimme die SPD. Sie erreichte nur 23 Prozent der Stimmen. Es war das schlechteste Wahlergebnis überhaupt. Vier Jahre später sieht es nicht besser aus. Die Partei dümpelt in Umfragen zwischen 20 und 25 Prozent. Was ist passiert? Steckt die SPD in einer Krise, aus der sie zeitnah wieder herauskommen kann? Oder braucht das Land keine Sozialdemokratie mehr – oder braucht es die SPD von Sigmar Gabriel nicht mehr?
Antworten sind dazu von der Parteiführung aus Berlin nicht zu erhalten. Dafür sprechen besorgte Sozialdemokraten: ehemalige Bundesminister und Ministerpräsidenten, amtierende Bezirksbürgermeister, langjährige SPD-Mitglieder. Die wenigsten offen, schließlich ist Wahlkampf und die Analyse zum Zustand der Partei fällt bei einigen so negativ aus, „dass sie wahlschädigend und ausreichend für ein Parteiausschlussverfahren wären“, erklärt ein Gesprächspartner.
Die Geschichte der SPD
Ferdinand Lassalle gründet am 23. Mai den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig, der Vorläufer der SPD. Das Datum gilt als Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie.
Auf einem Parteitag in Erfurt gibt sich die SPD ein neues Programm und wird zur Massenpartei - für die Rechte von Arbeitern.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November in Berlin die Republik aus. SPD und USPD bilden für kurze Zeit eine Revolutionsregierung.
Nach den Wahlen zur Nationalversammlung wird der Sozialdemokrat Friedrich Ebert Reichspräsident.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar endet die Weimarer Republik. Die Sozialdemokraten lehnen am 23. März das Ermächtigungsgesetz ab, im Juni verbietet Hitler die SPD. In der Folge werden zahlreiche Sozialdemokraten verfolgt, ermordet und in Konzentrationslagern eingesperrt.
SPD und KPD werden in der sowjetischen Besatzungszone unter Druck zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint.
Mit dem Godesberger Programm wandelt sich die SPD im Westen von einer Klassen- zu einer pluralistischen Volkspartei.
Zum ersten Mal ist die SPD in der Bundesrepublik an einer Regierung beteiligt: der Großen Koalition mit der CDU/CSU.
Willy Brandt ist Bundeskanzler der SPD/FDP-Koalitionsregierung. Nach seinem Rücktritt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume folgt ab 1974 Helmut Schmidt als Kanzler (bis 1982).
West- und Ost-SPD vereinigen sich zu einer gesamtdeutschen SPD.
Dritter SPD-Bundeskanzler wird Gerhard Schröder (bis 2005). Die SPD regiert mit den Grünen. Mit dem Namen Schröder sind auch die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ verbunden.
Die SPD kommt mit Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier auf nur 23 Prozent der Stimmen und verliert ihre Regierungsbeteiligung. Nach der Wahlniederlage wird Sigmar Gabriel zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.
Thilo Sarrazin ist einer der Wenigen, der sich mit Namen zitieren lässt. Der ehemalige Finanzsenator von Berlin ist seit Anfang der 1970er-Jahre Mitglied der SPD und hat bereits zwei Parteiausschlussverfahren – im Zusammenhang mit seinen streitbaren Thesen über die Integrationsfähigkeit von Migranten in Deutschland – überstanden. Sarrazin fürchtet, dass seine Partei immer mehr Stimmen aus der Mitte verliert und kritisiert die enge Verschmelzung mit den Grünen. „Die SPD war immer dann stark, wenn sie sich für eine breite Bevölkerungsschicht eingesetzt hat: vom kleinen Mann bis zum gehobenen Facharbeiter.“ Das gelänge nur, wenn man drei Grundsätze beachtet: „Unternehmen müssen Gewinne erwirtschaften. Der Staat muss für eine gewisse Umverteilung und ein soziales Sicherheitsnetz sorgen, um den sozialen Frieden zu sichern. Dieses Auffangnetz darf aber nicht im Übermaß zur Ruhe einladen“, so Sarrazin. Es ist eine Politik, für die alle drei SPD-Altkanzler standen – selbst der linke Willy Brandt – und von der sich die Partei zunehmend distanziert.
Im Sinne der Mittelschicht?





„Wer die Mitte verliert, verliert auch die Mehrheit“, unterstrich Willy Brandt einst. Es brauche eine Allianz von Sozialismus und Liberalismus, ein Bündnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Gerhard Schröder griff diese Strategie mehr als 20 Jahre später auf und wollte die „Neue Mitte“ für sich gewinnen. Es gelang. Bei den Bundestagswahlen 1998 holte der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachen 40,9 Prozent der Zweitstimmen und bildete eine Koalition mit den Grünen. „Schröder sprach Unternehmer an, da er ein Aufsteiger war. Jemand, der sich hochgearbeitet hatte und ehrliche Arbeit wertschätzte. Gleichzeitig hatte er eine proletarische Herkunft, die er nie verheimlichte und war geradezu reaktionär männlich“, sagt Sarrazin. So bot er sich als Kandidat für Facharbeiter wie für Akademiker an, für Frauen und Männer, für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Auch die SPD 2013 preist in Sonntagsreden die Mittelschicht, die „Mehrheitsposition einer Gesellschaft“, für diese „muss man streiten“, findet der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel. Doch tut die SPD das wirklich?
Im Ruhrgebiet, oft als „Herzkammer der SPD“ bezeichnet, sind die Zechen heute Museen statt Arbeitsstätten. Den Strukturwandel hat die Partei begleitet, nicht aber gestaltet. Der in die Höhe steigende Strompreis – unter dem vor allem die wenig Betuchten leiden – wird beklagt. Unternommen wird nichts. Dass die Mini-Zinsen aufgrund der Euro-Krise das Vermögen und die Altersvorsorge der Bürger verringern, wird gar nicht erst erwähnt. Stattdessen soll Wachstum in Europa erkauft werden. Der Weg zur Haftungsunion ist nicht weit.
Themen des SPD-Wahlprogramms
Die SPD will einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Bei gleicher Arbeit sollen Leiharbeiter den gleichen Lohn bekommen wie fest angestellte Kollegen. In Vorständen soll eine Frauenquote von 40 Prozent die Gleichberechtigung stärken.
Mit einer Neustrukturierung des Kindergelds sollen Familien mit geringen und mittleren Einkommen davor bewahrt werden, auf Hartz-IV-Niveau abzurutschen: Familien mit einem Einkommen bis 3000 Euro können mit dem bisherigen Kindergeld von 184 Euro und einem Kinderzuschlag von 140 Euro auf bis zu 324 Euro pro Monat kommen.
Die SPD will eine Solidarrente von 850 Euro für Geringverdiener, die mindestens 30 Beitragsjahre aufweisen können. Die Frage des künftigen Rentenniveaus ist noch offen. Die SPD-Linke will verhindern, dass es von rund 50 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns bis 2030 auf bis zu 43 Prozent absinken kann. Ost-Renten sollen bis 2020 stufenweise auf West-Niveau angeglichen werden.
Die SPD fordert die Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent für hohe Einkommen und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Steuerbetrug soll stärker bekämpft werden.
Bei Neuvermietungen soll die Miete nur maximal zehn Prozent über ortsüblichen Vergleichspreisen liegen. Bei bestehenden Verträgen soll es nur noch eine Erhöhung um maximal 15 Prozent binnen vier Jahren geben. Die SPD will mit einem Milliardenprogramm den sozialen Wohnungsbau stärken, um Druck von den Mieten zu nehmen.
Die SPD setzt sich für eine Finanztransaktionssteuer ein und pocht auf ein Trennbankensystem. Geschäfts- und Investmentbereich sollen stärker getrennt werden, damit Risiken für den Steuerzahler gemindert werden. Die Institute sollen europaweit aus eigenen Mitteln einen Rettungsschirm aufbauen, damit der Staat bei Schieflagen nicht haften muss. Zudem soll es ein Verbot von Nahrungsmittel- und Rohstoffspekulationen geben.
Mit einer Quotenregelung für Frauen wird das Leistungsprinzip ad absurdum geführt, mit der Gemeinschaftsschule und dem langfristigen Wunsch, die Gymnasium abzuschaffen, ebenso. Gleichheit statt Individualismus: eine Richtung, die dem Weg der Grünen ähnelt. Das gilt auch für die Steuerpläne, die Unternehmen verunsichern. „Im Wettkampf mit der Linkspartei und Grüne um Wählerstimmen rückt die Partei immer weiter von der Mitte weg“, sagt ein ehemaliger Bundesminister der SPD. „Das Problem: Viel weiter nach links kann die SPD nicht mehr. Dann ruiniert sie die Volkswirtschaft.“
Eigentlich sollte Peer Steinbrück das Gegenwicht zum Linksruck von Sigmar Gabriel, Andrea Nahles & Co. bilden. Der Parteivorsitzende sollte linke Wähler begeistern, Steinbrück entnervte Unionswähler einsammeln. Doch: „Die Strategie, sich breit aufzustellen, ist gescheitert. Es fehlt eine vernünftige Gesamtgeschichte“, so ein ehemaliger Spitzenpolitiker der Jubiläumspartei. „Man glaubt der SPD schlicht nicht.“
Wie sollte es auch anders sein. Schließlich ist auch Peer Steinbrück längst von seinem Kurs abgerückt. Einst wackerer Verteidiger der Agenda 2010, hat er nun mit dem Gewerkschafter Klaus Wiesehügel einen Reformkritiker ins Schattenkabinett berufen. „Wir müssen Schluss machen mit befristeten Beschäftigungen, Leiharbeit und schlechter Bezahlung“, so Wiesehügel. Die Hartz-IV-Reformen müssten geprüft und gegebenenfalls korrigiert werden.
Die SPD wird grüner





Die SPD ist ratlos geworden. Im Umgang mit den eigenen Reformen, mit der Union, der Linkspartei und vor allem den Grünen. Die Parteienlandschaft hat sich seit 1949 geändert, die Stimmung in der Bevölkerung kaum. Deutschland ist geteilt: Ziemlich genau die Hälfte gibt seine Stimme bei Bundestagswahlen dem bürgerlichen, konservativen, rechten Lager. Die anderen 50 Prozent wählen linke Parteien. Das Problem: Während die Union rechts der Mitte – sofern demokratisch – konkurrenzlos dasteht, kämpfen auf der linken Seite gleich drei Parteien um die Wählergunst.
Zahlen zur SPD
150 Jahre Sozialdemokratie - das ist eine Geschichte vieler Auf und Abs. Die Zeiten mit über einer Million Mitglieder sind lange vorbei. Ein Überblick - die Zahlen beruhen auf SPD-Angaben.
Ende März waren es 474 481. Der Höchststand wurde in der Weimarer Republik erreicht: Mit 1,261 Millionen im Jahr 1923. Das Durchschnittsalter liegt heute bei 59 Jahren - das älteste Mitglied ist 107. Die längste Mitgliedschaft betrug 88 Jahre.
Derzeit gibt es rund 9000 Ortsvereine. Nach der Wiedervereinigung waren es in den 90er Jahren bis zu 10.000.
2011 betrugen die Einnahmen 155 Millionen, die Ausgaben 141 Millionen - allein der aktuelle Bundestagswahlkampf kostet über 20 Millionen Euro. Solche Jahre werden in der Regel mit einem Minus abgeschlossen.
2011 erhielt die Partei 12 Millionen an Spenden, die Mitglieder zahlten zudem 70 Millionen an Beiträgen, 2010 waren es 68 Millionen. Die Spenden steigen im Wahljahr meist an. 2009 lagen sie zum Beispiel bei 18,7 Millionen Euro.
„Besonders gefährlich für die SPD ist, dass die Grünen die traditionelle Arbeitsverteilung nicht mehr akzeptieren“, sagt Thilo Sarrazin. „Früher war es so, dass sich die SPD auf die Themen Wirtschaft, Finanzen und soziale Gerechtigkeit konzentrieren konnte, die Grünen auf die Schaffung einer besseren Welt, in dem sie den Protest für Frieden und den Umweltschutz und gegen die Kernkraft eine Stimme gaben. Das ist unter Jürgen Trittin vorbei.“ Die SPD reagiert mit einem demonstrativen Schulterschluss. Claudia Roth besucht das Spitzentreffen der Genossen, Gabriel spricht auf dem Parteitag der Grünen. Dadurch werden nicht die Grünen roter, sondern die SPD – siehe Steuerprogramm und Technologiefeindlichkeit – grüner.
So verwundert es nicht, dass die Ökopartei in Wahlumfragen profitiert und selbst trotz Steuererhöhungen in der Wählergunst noch steigt, während die SPD stagniert. Zweifler sagen: Die älteste Partei Deutschland steckt in der Sackgasse. „Es ist schwer aus dieser Situation einen Ausweg zu finden. Dazu braucht es Führungskraft, Kreativität, und Mut der Führungsspitze“, so Sarrazin.
Die großen Grundsatzprogramme der SPD
Die SPD gilt als klassische Programmpartei. Die CDU/CSU wird von den Sozialdemokraten gerne als „Kanzlerwahlverein“ verspottet - auch im Bundestagswahljahr 2013 dominiere inhaltliche Leere und Unschärfe. Bei der SPD standen Inhalte meist über Personen. Seit 1863 hat sie sich acht Grundsatzprogramme gegeben.
Nach dem Eisenacher Programm (1869) und dem Gothaer Programm (1875) der Gründerorganisationen Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV), Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP) und Sozialistischer Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) ist das Erfurter Programm das erste Programm der SPD. Als erste Partei in Deutschland fordert sie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen, eine Abschaffung von Gesetzen, die Frauen benachteiligen, und die Einführung eines Acht-Stunden-Tages sowie ein Arbeitsverbot für Kinder unter 14 Jahren. Insgesamt strebte die Partei eine Überwindung des herrschenden Systems an - das Programm war vom Marxismus geprägt.
Im Görlitzer Programm bekannte sich die Partei erstmals dazu, nicht nur Klassenpartei der Arbeiter zu sein, sondern eine Art linke Volkspartei. Fast visionär mutet heute das Heidelberger Programm von 1925 an, in dem eine Zurückdrängung des Finanzkapitals gefordert wurde. Aus ökonomischen und politischen Gründen sei die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsunion notwendig, die SPD schlug daher die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor.
Am bekanntesten ist das Godesberger Programm, das gemeinhin unter der Überschrift „Abschied vom Marxismus“ firmiert. Es wurde für 30 Jahre Richtschnur der Partei und ebnete den Weg hin zu einer Volkspartei mit über einer Million Mitgliedern in den 70er Jahren. Der Weg zum Sozialismus war nun nicht mehr das erklärte Ziel. Die Partei bemühte sich um eine Annäherung an die katholische Kirche und versuchte, auch für die Wirtschaft attraktiver zu werden.
Nach dem Berliner Programm 1989 dauerte es nur acht Jahre bis 2007 das aktuell gültige Hamburger Programm beschlossen wurde. Es soll die Partei für das 21. Jahrhundert positionieren, etwa mit Blick auf eine politische Gestaltung der Globalisierung. Wichtige Punkte sind die internationale Stärkung der Demokratie und eine Eindämmung der Macht von global agierenden Konzernen. Aber im Fokus stehen auch Themen wie Klimaschutz und Sicherung ökologischer Lebensgrundlagen. Die Partei fordert zudem ein sozialeres und demokratischeres Europa sowie eine stärkere Beteiligung der Bürger („Bürgergesellschaft“).
Gerhard Schröder hatte diese Klasse. Er hat es gleich zwei Mal geschafft, einen Ausweg aus einer nahezu ausweglosen Lage zu finden. Im Wahlkampf 2002 punktete er spät mit seinem Veto gegen den Irak-Krieg und als Krisenmanager beim Elbe-Hochwasser. Doch nach dem Wahlsieg machte sich schon bald Ernüchterung breit und politischen Beobachtern war klar, dass die SPD beim nächsten Mal abstürzen würde. Die Stagnation der Wirtschaft stand vor der Tür, der Bundesrat fest in der Hand der Opposition. Mit der Agenda 2010 und der Kampagne gegen Merkels designierten Finanzminister Paul Kirchhoff, den „Professor aus Heidelberg“, rettete Schröder den Wahlkampf 2005 und riss das Ruder fast noch herum. Die SPD holte mehr Stimmen (34,2 Prozent) als eigentlich möglich – und hätte fast noch die CDU geschlagen.
„Diese Fähigkeit, eine Wende herbeizuführen, sehe ich beim derzeitigen Spitzenpersonal nicht“, beklagt ein ehemaliger SPD-Bundesminister. „Gabriel sucht verzweifelt nach einem Weg aus der Sackgasse und macht viele Vorschläge. Aber mit seinen Vorschlägen, etwa zum Tempolimit, rast er gegen die Wand.“
Im Lokalen ist die SPD eine Macht





Während in Berlin derzeit fast alles schiefläuft, sieht es auf lokaler und regionaler Ebene ganz anders aus. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen konnten die Sozialdemokraten jubeln. Und: 27 deutsche Großstädte haben seit 2009 neue (Ober)-Bürgermeister gewählt. 21 Mal gewann die SPD, kein einziges Mal die CDU. Zuletzt gewann im März der 38-Jährige Sven Gerich überraschend die Stichwahl zum Oberbürgermeister in Wiesbaden gegen den Amtsinhaber von der CDU, Helmut Müller. Er punktete mit dem Versprechen, transparente Politik zu machen, den Hochschulstandort zu stärken und sich für billigen Wohnraum einzusetzen.
Die Eckpunkte des SPD-Rentenkonzepts
Sie soll nach 30 Beitragsjahren auch nach längerer Arbeitslosigkeit oder Tätigkeit in einem Billigjob einen Mindestanspruch von 850 Euro im Monat garantieren. Für alle, die trotz 30 Beitrags- und 40 Versicherungsjahren nicht auf diesen Betrag kommen, soll im Sozialrecht eine zweite Stufe der Grundsicherung eingeführt werden.
(gegenüber erstem Entwurf neu): Wer 45 Versicherungsjahre - nicht Beitragsjahre - aufweist, soll auch schon vor dem 65. Lebensjahr ohne Einbußen in Rente gehen können. Bislang erhalten Beschäftigte nur dann die volle Rente, wenn sie 45 Jahre in die Versicherung eingezahlt haben und 65 Jahre alt sind.
Bezieher sollen keine Abschläge mehr hinnehmen. Bislang wird der Betroffene dabei so gestellt, als habe er bis zum 60. Lebensjahr weiter Beiträge zur Rente gezahlt. Die Zeit zwischen Eintritt der Erwerbsminderung und dem 60. Lebensjahr wird „Zurechnungszeit“ genannt. Diese Zeit will die SPD in einem Schritt bis zum 62. Lebensjahr verlängern. Zudem soll die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren für den Eintritt in die Erwerbsminderung besser bewertet werden.
Beschäftigte in körperlich und psychisch belastenden Berufen (etwa Schichtarbeiter) sollen ab dem 60. Lebensjahr auf das neue Modell zurückgreifen können. In Zehn-Prozent-Schritten kann danach die Arbeit bis zu 70 Prozent reduziert werden.
Ihre Anerkennung will die SPD für alle Neurentner vereinheitlichen. Bislang sind Frauen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, bei der Rentenberechnung schlechter gestellt.
Für Freiberufler, die ohne Rentenvorsorge sind und deshalb häufig in Altersarmut landen, soll es ein eigenes Beitragssystem geben. In den ersten Jahren nach Gründung eines Unternehmens könnte für sie Beitragsfreiheit gelten.
Sie soll als Ausgleich für die Absenkung des Rentenniveaus - von jetzt gut 50 auf 43 Prozent bis 2030 - massiv ausgebaut werden. Als „zweite Stufe“ neben der Rentenversicherung soll sie weitgehend die Riester-Rente ersetzen. Geplant ist eine „Betriebsrente Plus“, in der jeder Arbeitnehmer, falls er nicht ausdrücklich widerspricht, zwei Prozent seines Bruttolohns einzahlt. Der Staat soll diesen Sockelbetrag mit 400 Euro im Jahr fördern. Auch die Unternehmen sollen sich beteiligen.
Die Mehrkosten für die Betriebsrenten gegenüber heutigen Fördermodellen werden auf sechs Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Sie sollten nach SPD-Ansicht aus Steuermitteln aufgebracht werden. Für die Solidarrente werden jährlich ansteigend etwa eine Milliarde veranschlagt, für die Kindererziehungszeiten 150 Millionen im Jahr. Beides soll durch Haushaltsmittel finanziert werden.
Teuer käme auch die Ausweitung der Erwerbsminderungsrente. Die Kosten dafür stiegen nach SPD-Berechnungen von 500 Millionen 2014 auf 7,7 Milliarden 2030. Finanziert werden soll dies aus den Beiträgen der Versicherten.
Ihren Anstieg will die SPD in kleinen Schritten verstetigen. Die Sätze sollen von 2014 bis 2029 um durchschnittlich 0,4 Prozent höher steigen als bislang geplant. Damit würde aber das von der Rentenversicherung angepeilte Beitragsniveau von 22 Prozent bis 2029 nicht übersprungen.
„Der Mietwohnungsbau ist in Wiesbaden in den letzten zehn Jahren faktisch zum Erliegen gekommen“, so Giersch. Gerade junge Familien, Großfamilien und Alleinerziehende seien nun auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum. „Die Förderung des Wohnungsneubaus genießt absolute Priorität.“ Auch, weil diese ur-typische sozialdemokratische Politik jahrelang vernachlässigt wurde. Eine Untersuchung im Auftrag der „Wohnungsbau Initiative“ kam im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass in Deutschland etwa vier Millionen Sozialwohnungen fehlen. Zwischen 2002 und 2012 sei die Zahl dieser Objekte von 2,47 Millionen auf rund 1,5 Millionen zurückgegangen. Besonders groß ist die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage in Baden-Württemberg und den SPD-dominierten Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und dem Saarland.
Im Bund lehnte die SPD zuletzt die schwarz-gelbe Initiative zur Stärkung der Mieter ab. Das Gesetz sieht unter anderem eine Mietpreisbremse vor. Doch: Die Reform ging den Sozialdemokraten nicht weit genug. Nun stockt das Vorhaben.
„Es ist nicht wichtig, dass wir uns von anderen Parteien unterscheiden. Es ist wichtig, dass wir Haltung beweisen“, beklagt ein ehemaliger Spitzenpolitiker der SPD. „Wenn die Union Studiengebühren abschaffen will, sollten wir das unterstützen. Setzt sich die Bundeskanzlerin für eine Mietpreisbremse ein, sollten wir gemeinsam eine Lösung finden.“ Im Lokalen ist die SPD da oftmals weiter. Eng verwurzelt in der Gesellschaft, werden im Fußballverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder beim Schützenfest Bündnisse geschlossen. Mit Freunden wie Kritikern, mit Genossen und Bürgerinitiativen. „Für mich ist die Stadt ein Gemeinwesen“, sagt Gerich. „Einen Satz, den ich immer wieder gehört habe, unabhängig von den spezifischen Anliegen der jeweiligen Gesprächspartner war, dass die Menschen mehr mitgenommen werden möchten, bei dem was in ihrer Stadt passiert – dass sie beteiligt werden möchten, dass Entscheidungen besser diskutiert und kommuniziert werden.“
Der Erfolg von Gerich und seinen Kollegen im Amt des Oberbürgermeisters in vielen Städten Deutschlands zeigt, dass die SPD noch gebraucht wird. Als Kümmerer. Als eine Partei, die zuhört. Und zwar jedem. Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Autofahrer wie Fußgänger. Eine Partei, die Interessen vertritt, die Deutschland weiterbringen, und nicht eine Politik der Angststarre vertritt. Das wäre eine Politik, die eine neue „Neue Mitte“ anspräche. Es ist eine Ausrichtung, die die Bundes-SPD 2013 nicht vertritt.