20 Jahre Mauerfall Deutschland einig Flickenteppich

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Arthur König, 58, Oberbürgermeister in Greifswald, Vorpommern Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Greifswald hat sie zweifellos genutzt. Arthur König kann sich noch gut daran erinnern, wie der Marktplatz vor zwei Jahrzehnten aussah, teils abgerissen, unbewohnbar, Stauden wuchsen aus den Giebeln schwarzer, fensterloser Häuser, die rußige Luft der Rohbraunkohle stand glockenschwer über der Stadt. „Es war trostlos“, sagt der Oberbürgermeister. Greifswald zählte damals knapp 70.000 Einwohner, die meisten von ihnen lebten vom VEB Nachrichtenelektronik, vom Bau und Betrieb der beiden Atomkraftwerke im benachbarten Lubmin, nicht wenige arbeiteten im Hafen, hinzu kamen 3500 Studenten.

Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass Greifswald sich seither neu erfunden hat. Die Kernkraftwerke sind abgeschaltet, für die Elektronik fand die Treuhand keinen Käufer, im museumsreifen Hafen werden noch ein paar Hundert Tonnen Baustoffe, Altreifen und Düngemittel umgeschlagen, das ist alles. Wie ein Mahnmal überragt das Skelett des Speicherhauses am Hansering das Flüsschen Ryck, Greifswalds Zugang zu Bodden und Meer. Hansestadt Greifswald? Nun – das ist Vergangenheit.

Universitätsstadt Greifswald – das ist die Gegenwart. Biologie, Humanmedizin, Geografie oder Betriebswirtschaft – in den einschlägigen Rankings erzielt die Hochschule laufend Spitzenplätze. Ein Tor, wer heute Abi macht und Greifswald nicht auf der Rechnung hat. 12.000 Studenten bevölkern den herrlichen Campus rund um das barocke Hauptgebäude am Rubenowplatz, tummeln sich in der Backstein-Altstadt mit ihren typischen Giebelbauten und dem ochsenblutfarbenen Rathaus, sehen sich im Pommerschen Landesmuseum die Friedrichs, Weisgerbers, Slevogts und Pechsteins an, radeln über den Wall und am Ryck vorbei zum Meer oder gleich ein paar Kilometer weiter nördlich, nach Rügen.

Sieben, acht Millionen Euro investiert die Stadt jedes Jahr in kosmetische Maßnahmen – zwei Drittel dessen, was sie an Gewerbesteuern einnimmt. König weiß, dass die wirtschaftliche Lage in Greifswald verheerend ist, dass die Stadt zu 70 Prozent von Schlüsselzuweisungen lebt, dass die Arbeitslosenquote trotz 1000 bezuschusster Jobs noch immer bei 13 Prozent liegt.

„Es ist unser Schicksal, vom Geld anderer abhängig zu sein“, sagt König, „wir sind nun mal eine Stadt des öffentlichen Dienstes, die eine äußerst dünn besiedelte Region versorgt.“ Es wäre gleichwohl töricht, aus Greifswald eine Industriestadt machen zu wollen. Aber eine Universitätsstadt wie Tübingen, Marburg oder Heidelberg, so König, sei Greifswald heute schon. „Auf diese Weise können wir dem Land wenigstens das zurückgeben, was es am meisten braucht: kluge Köpfe.“

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