
WirtschaftsWoche: Herr Professor Münkler, als Premierministerin Margaret Thatcher nach dem Fall der Mauer die britische Haltung zur deutschen Frage formulierte, offenbarte sie tief sitzende Vorbehalte: Sie hielt die Deutschen offenbar für unberechenbar und nationalistisch. Woher hatte sie diesen Eindruck?
Münkler: Diese Sicht hat Tradition in Großbritannien. Schauen Sie nur, wie die britische Presse regelmäßig über Fußball berichtet: Da wird, auch im Hinblick auf die Erwartungen der Leser, mit nationalen Stereotypen gespielt. Da ist, egal, wie sich die Spielkultur auf der Gegenseite entwickelt hat, gern von Blitzkrieg und den German Tanks die Rede, den deutschen Panzern.
Was hatte Thatcher gegen die Deutschen?
Ihre Vorstellungen von den Deutschen speisten sich, wie bei vielen ihrer Generation, noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie hat das wohl gebraucht für ein stabiles Weltbild. Stereotypen sind die Elefantengedächtnisse von Ereignissen: Sie schaffen schnelle Orientierung, blockieren aber auch Lernprozesse. Man sieht bevorzugt das, was man ohnehin schon zu wissen glaubt. Und ignoriert, dass sich die Welt verändert.
Und mit ihr die Deutschen?
Sicher. Schon auf meine Generation – ich bin 1951 geboren – treffen diese Klischees nicht mehr zu. Wir sind eine Art Speerspitze des Postheroischen – also das genaue Gegenteil von dem, was viele Deutsche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisierte.
Kann man vor dem Hintergrund unserer extremen Schwankungen unterworfenen Geschichte überhaupt von einem schlüssigen Bild der Deutschen sprechen?
Das ist in der Tat schwierig. Das fängt schon an mit den Unterschieden, die sich vor 2000 Jahren diesseits und jenseits des germanischen Grenzwalls Limes herausbildeten. Verbunden mit der Christianisierung im Süden und Westen, also im heutigen Bayern, in Baden-Württemberg und Teilen des Rheinlands, wo sich der christliche Glaube bis heute gehalten hat – während der Osten tendenziell zum Heidenland geworden ist. Kurz: Deutschland ist seit jeher eine Einheit der Gegensätze, während sich etwa in Frankreich, ausgehend von Paris, eine nationale Identität viel leichter entwickeln und in die Peripherie ausbreiten konnte.
Es wäre also besser, man -würde den Begriff Nationalcharakter ad acta legen?
Der ist von jeder Generation zu den Akten gelegt worden, aber immer wieder aufge-taucht. Zuerst bei den Humanisten im 15. Jahrhundert, die Tacitus’ „Germania“ und „Annalen“ ausgraben. Da werden den Germanen Eigenschaften wie Treue, Sittenstrenge und Kriegstüchtigkeit, aber auch die Lust am Saufen attestiert. Das sind Fremdetikettierungen durch die Hegemonialmacht Rom, die sich ihrer zivilisatorischen Überlegenheit bewusst ist. Und die Humanisten setzen die zeitgenössischen Deutschen mit den Germanen gleich. So sind die Deutschen immer von Westen oder Süden her durch die Romanen gestempelt worden. Und wir haben uns dafür revanchiert, indem wir nach Osten gestempelt haben. Das tun wir heute noch – wenn wir von der Polenwirtschaft sprechen oder den notorischen Autodieben. Da können die Polen machen, was sie wollen.
Wenn es schon nicht „die“ Deutschen gibt – kann man zumindest von einer dominanten deutschen Mentalität sprechen?
Auf jeden Fall. Wenn etwa in der Literatur beschrieben wird, wie gewissenhaft viele Deutsche sind, wie gründlich, wie handwerklich geschickt, zugleich grüblerisch veranlagt – dann wird aus diesen Beschreibungen unter der Hand ein „So sind die Deutschen“. Und diejenigen, die eigentlich ganz anders sind, bemühen sich, auch so zu sein. Das zieht sich durch bis zum Volksschullehrer, der bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ungeheuer wichtige Rolle gespielt hat: Er war bestrebt, junge Menschen nach den Idealen zu formen, die er für typisch deutsch hielt.
Woher rührt dieses Streben?
Aus dem Wunsch, nicht verwechselt zu werden, vor allem nicht mit den Nachbarn. Sigmund Freud nennt das den Narzissmus der kleinen Differenzen. Bei den Deutschen etwa spielt mit der Entwicklung der Spielzeug- und Waffenindustrie das Handwerklich-Präzise, das Feinmotorisch-Hochwertige eine besondere Rolle. Denken Sie an die Anfänge der Uhrenindustrie oder die Erfindung des Globus in Nürnberg um das Jahr 1500. Plötzlich heißt es auch im Ausland: Das können die aber wirklich. Dann wird das zu einem Gütesiegel – bis hin zu „made in Germany“: Was die Briten den deutschen Produkten als Makel anhängen wollten, wurde zu einem Gütesiegel dafür, dass etwas besonders hochwertig und haltbar ist.
Deutschland gilt aber auch als Land der Dichter und Denker.
Wieder ein Etikett, das von außen aufgeklebt wurde – von der französischen Schriftstellerin Madame de Staël, die Anfang des 19. Jahrhunderts durch Deutschland reiste. Natürlich idealisiert sie auch deutsche Verhältnisse, um die Alternative zum französischen Politikbetrieb des napoleonischen Kaiserreichs attraktiv zu machen. Das hatte Folgen: Die von Napoleon militärisch und politisch gedemütigten Deutschen erhielten von Madame de Staël eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein in Sachen Kunst und Literatur. So stellte sich den Deutschen hinfort die Frage: Wer wollen wir sein – Denker oder Krieger? Eine Ambivalenz, die die deutsche Geschichte bis in die Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts durchzieht.
Und die auch unser romantisches Erbe geprägt hat?
Durchaus. Wie die Romantik überhaupt die Wiege unserer nationalen Mythen ist. Wenn Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder Mainfranken bewandern, Achim von Arnim und Clemens Brentano in Heidelberg „Des Knaben Wunderhorn“, eine Sammlung deutscher Volkslieder, herausbringen und den Mittelrhein als typisch deutschen Ort feiern, mit Burgenromantik und Loreley, dann tun sie das auf der Suche nach ihrer eigenen und zugleich der nationalen Identität. Wobei auch hier eine Fremdzuschreibung am Anfang stand: Es waren die Engländer, die mit ihrem Sinn für Gothic den Mittelrhein entdeckt haben. Die deutschen Eliten sponnen dieses Sinnangebot weiter im Sinne eines typisch deutschen Nationalmerkmals, das Selbstbewusstsein im doppelten Sinn verleiht: Man weiß, woher man kommt, und ist stolz darauf.
Romantik als Identifikationsangebot?
Ja. Dieses Angebot ist umso verlockender, je weniger politische Angebote es gibt, auf die man sich stolz beziehen kann. Keinen Nationalstaat etwa, der in Deutschland ja erst spät geschaffen wird. Dann werden der deutsche Wald oder die mittelalterliche Sagenwelt zur attraktiven Alternative.
Gehört zum Romantischen die Skepsis gegenüber der modernen Welt und dem materiellen Erfolg, also auch dem Geld?
Wenn man Tieck oder Wilhelm Hauff liest, könnte man diesen Eindruck bekommen. Dabei sind die Deutschen in ihrer Geschichte alles andere als schlechte Geschäftsleute gewesen. Und vergessen wir nicht: Es war der Trierer Journalist Karl Heinrich Marx, der die Zusammenhänge einer kapitalistischen Produktion und Zirkulation am schärfsten erfasst hat. Ein Deutscher, der, als er Band eins des „Kapitals“ veröffentlichte, gesagt hat, dies sei ein Triumph der deutschen Wissenschaft. Man kann sich vorstellen, warum er das sagte: weil er die britischen und französischen Intellektuellen für zu oberflächlich hielt, um den Kapitalismus mit einer derartigen Gründlichkeit zu durchdenken, wie er es getan hat.