27. Einheitstag Vielgeteiltes Deutschland

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Inseln im Westen


Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 war dann der Zeitpunkt, an dem die langjährigen Entwicklungen Demografie, Strukturschwäche und Globalisierungsangst in lautstarken Protest mündeten. Nicht nur, aber zuerst und besonders anfangs, stärker in Ostdeutschland. „Viele Ostdeutsche haben Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne durchlebt. Jetzt kommt hinzu, dass nicht wenige das kleine bisschen Wohlstand, das sie sich erarbeitet haben, durch die Zuwanderung gefährdet sehen“, beschreibt die Ost-Beauftragte Gleicke die Entwicklung. „Das rechtfertigt nichts, schon gar nicht Fremdenfeindlichkeit, aber Politik und Medien müssen damit umgehen, dass viele Menschen so empfinden“, betont sie.

Der deutsche Föderalismus, die zersplitterten Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden machen es aus Sicht der Bundesregierung nicht einfacher, überall im Lande die Lebensbedingungen zu verbessern: Landesregierungen, Landräte und Bürgermeister vor Ort sind gefragt. Sie müssen vor Ort dafür zu sorgen, dass nicht in drei Kleinstädten nebeneinander überall gleichzeitig die Lichter ausgehen, sondern zum Beispiel eine Schule und ein Krankenhaus für alle gut ausstatten.

Allerdings: „Wer in einem strukturschwachen Gebiet lebt, muss erwarten dürfen, dass die Bundesregierung alles dafür tut, das es keine abgehängten Regionen gibt“, verlangt Gleicke. Das gelte für Ost wie West: „Ostdeutschland ist ein großes zusammenhängendes strukturschwaches Gebiet, während es im Westen eher einzelne Inseln sind“, sagte sie. Für die Menschen vor Ort seien die Probleme aber gleich, wenn der Schulbus das einzige öffentliche Verkehrsmittel ist oder das nächste Krankenhaus sehr weit weg liege.

Gigabit für die Stadt, Funkloch fürs Land

Die Aufgabe, überall gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen, haben die letzten Bunderegierungen ganz offensichtlich nicht erfüllt. Die Autoren des Raumordnungsberichts des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung warnten kurz vor der Bundestagswahl: „Die Schrumpfungsprozesse von Landgemeinden erfassen nach Ostdeutschland zunehmend auch Westdeutschland.“ So nahm die Zahl der Einwohner von Großstädten in den letzten zehn Jahren um 1,4 Millionen zu; in 37 Prozent der Mittelstädte und 52 Prozent der Kleinstädte hingegen schrumpfte sie.

„Ländliche Räume brauchen die gleichen Entwicklungschancen wie große Städte“, verlangt Landkreistagspräsident Reinhard Sager im Handelsblatt. „Eine gute Entwicklung in den ländlichen Gebieten liegt auch im Interesse der Städte“, erinnert er. Massiver Zuzug führe dort zu explodierenden Mieten und neuen Konflikten.

Rezepte gegen die Spaltung gibt es. Breitbandausbau zum Beispiel, sagt Sager: „Es wäre zynisch, den Landgemeinden 50 MBit zuzugestehen, die Städte aber für die Gigabit-Gesellschaft zu ertüchtigen.“  Mit echtem Breitbandausbau hätten auch Dörfer wieder die Chance auf neue Unternehmen.

Gleicke erinnert daran, dass es drei Mittel im Kampf gegen Strukturschwäche gebe: Klassische Wirtschaftsförderung, Innovationsprogramme und vor allem die Stärkung der Kommunen. Zwar habe die scheidende Bundesregierung begonnen, die Finanzkraft der Kommunen zu erhöhen, etwa mit Geld für Schulen und ist überzeugt, dass dies positive Wirkung entfalten werde. „Das funktioniert aber nicht von heute auf morgen. Entscheidend ist, dass die neue Regierung daran engagiert weiterarbeitet und nicht den Stecker zieht“, fordert sie.

Vor allem brauchen die Landkreise eine Regionalstrategie. Im Kreis Nordfriesland gibt es genau die schon seit einigen Jahren. In einem „Masterplan Daseinsvorsorge“ bestimmen die Gemeinden gemeinsam, was bei abnehmender Bevölkerung wo erhalten bleiben, und ausgebaut werden soll. Wohl auch deshalb blieb der Unzufriedenheitsindikator der AfD-Wählerstimmen mit 6,5 Prozent dort recht niedrig.

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