
Herr Bolz, evangelische wie katholische Kirche scheinen fest entschlossen, das Reformationsjahr im Zeichen der Einheit zu feiern. Taugt Martin Luther als überkonfessionelle Identifikationsfigur?
Es wäre absurd, ausgerechnet im Reformator den Versöhner zwischen den Konfessionen zu feiern. Er war ja ein Spalter, der die Revolte gegen die katholische Kirche erst in Gang gesetzt hat. Die tastenden Versuche der Wiederannäherung der Konfessionen verstehe ich eher als politische Manöver, mit Theologie hat das wenig zu tun. Wie man ohnehin in der öffentlichen Darstellung gerade der evangelischen Kirche kaum mehr wiedererkennen kann, was einmal Theologie war. Erst recht nicht, was Luther im Sinn hatte.
Die römisch-katholische Weltkirche
Mit 488 Millionen Gläubigen leben über 40 Prozent der Katholiken in Mexiko, Mittel- und Südamerika. In Lateinamerika ist keine andere Religionsgemeinschaft nur annähernd so bedeutend wie die katholische Kirche.
Rund 588 Millionen Christen leben in Europa (inklusive Russland). Der katholischen Kirche gehören 278 Millionen Menschen an - das sind knapp ein Viertel der weltweiten Katholiken. Mit reichlich 200 Millionen Gläubigen stellt die orthodoxe Kirche die zweitgrößte christliche Gruppe in Europa. Etwa 69 Millionen Menschen sind protestantische, 26 Millionen anglikanische Christen. Rund 100 Millionen Menschen werden keiner Religion zugeordnet.
Christen bilden mit knapp 500 Millionen Anhängern vor den Muslimen die größte Glaubensgemeinschaft auf dem Kontinent. Die meisten davon - 183 Millionen - gehören der römisch-katholischen Kirche an. Sie stellen über 15 Prozent der Weltgemeinde.
Hinter Muslimen, Hindus, Anhängern von Volks- und ethnischen Religionen sowie Buddhisten stellen die Katholiken mit 140 Millionen Mitgliedern nur einen kleinen Teil unter den asiatischen Gläubigen. Rund jeder neunte Katholik kommt somit aus Asien.
Knapp ein Drittel der 275 Millionen kanadischen und US-amerikanischen Christen sind Katholiken (87 Millionen). Rund neun Millionen Katholiken leben in Ozeanien. Somit leben auf beiden Kontinenten etwa acht Prozent der weltweiten Katholiken.
Was meinen Sie damit?
Ich beobachte schon seit Längerem eine theologische Entkernung des Protestantismus. Was übrig bleibt, ist eine Fassadenarchitektur. Im Grunde gilt Luther als Störfaktor, den man am liebsten eliminieren möchte, um eine modernitäts- und talkshowtaugliche Form von Protestantismus zu präsentieren. Dahinter steckt der verzweifelte Versuch, den Mitgliederschwund zu stoppen und wieder Zuspruch zu gewinnen.
Was spricht dagegen, dass die evangelische Kirche zeigen will, wie aktuell ihre Glaubensbotschaft ist?
Nichts, wenn sie es denn ernst meinte damit. Stattdessen scheint sie von der Angst getrieben, nicht mithalten zu können mit einer Öffentlichkeit, der alles Theologische fremd geworden ist. Dabei müsste heute jede Religion, die sich ernst nimmt, angesichts der modernen Welt stolz darauf sein, dem Zeitgeist zu widerstehen.
Das Reformationsjahr als Chance, von Luther, dem Unzeitgemäßen, zu lernen?
Unbedingt, Luther ist ein dauerndes Ärgernis, ein notorischer Ruhestörer, heute wie vor 500 Jahren. Warum? Weil er den Glauben beim Wort nahm, weil er seinen dogmatischen Kern bewahren wollte. Dogma heißt ja nichts anderes als der „richtige Glaube“. Der freilich lässt sich kaum den Standards der wissenschaftlich-technischen Welt anpassen. Wenn Modernität bedeutet, diesen Rahmen als den einzig verbindlichen anzuerkennen, dann kann die Kirche niemals modern, niemals zeitgemäß sein. Dafür allerdings stand Luther auf radikale Weise, in seiner Vernunftskepsis, seiner polemischen Energie, seinem Mut und seiner Standhaftigkeit gegenüber den Mächtigen seiner Zeit. Das fehlt heute am meisten: dieses „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“.
Zur Person
Norbert Bolz, 63, ist Professor für Medienwissenschaft an der TU Berlin. Zuletzt erschien von ihm "Zurück zu Luther". Welche frommen Vorsätze er für 2017 hat? Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht wieder ein neues Buch von Bolz herauskäme.
Ist Frau Käßmann nicht mutig gewesen, als sie gegen die Afghanistan-Politik predigte?
Wer ekstatischen Pazifismus betreibt, den kann man schlecht als mutig bezeichnen. Der bewegt sich geschmeidig innerhalb des Mainstreams. Zu den Todsünden der evangelischen Kirche gehört seit vielen Jahren vor allem ihre dilettantische Einmischung in politische Fragen, von denen sie schlechterdings keine Ahnung hat. Auch da könnte sie von Luther lernen, der Politik und Religion aus religiösen Gründen scharf getrennt hat.
Hat die evangelische Kirche Luthers zentrale Themen wie Sünde und Gnade auch deshalb aufgegeben, weil wir Heutigen nur noch wenig damit anfangen können?
Ich gebe zu, es will gelernt sein, sich etwa von der christlichen Sündenlehre einen Begriff zu machen in einer Zeit, die den Sünder zum bloßen Patienten erklärt. Aber auch das hat Luther schon gesehen: Der Glaube muss geübt werden. Es genügt nicht, dass man die Bibel im stillen Kämmerlein liest, man braucht die Kirche, um die Einübung in den Glauben zu praktizieren. Ein anderer großer protestantischer Theologe, Sören Kierkegaard, hat genau das zu seinem Zentralproblem gemacht: Wir müssen uns die christlichen Schlüsselbegriffe erst wieder erarbeiten, müssen lernend in sie hineinfinden, um unsere Identität als freiheitliche Christenmenschen formulieren zu können.