60 Jahre Bundesrepublik Die glückliche Generation

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Werner Hüppe, Verholt Polstermöbel, Herten

Werner Hüppe, Möbelfabrikant von Verholt Polstermöbel in Herten Quelle: Catrin Moritz für WirtschaftsWoche

Jeden Abend, wenn die Arbeiter längst daheim sind, wenn die Angestellten ihre Rechner heruntergefahren haben, wenn also Ruhe einkehrt in der Möbelfabrik Verholt, dreht der Chef Werner Hüppe noch einmal eine kleine Runde. Schlendert an den Nähmaschinen vorbei Richtung Polsterei, in der Gestelle und Bezüge zu Sofas zusammenwachsen. Und macht schließlich halt in der Abholhalle, wo Laster die Tagesproduktion schlucken und mit der Fracht im Bauch zu Möbelhäusern in ganz Europa ausschwärmen.

Hüppe genießt diese kurzen Minuten am Ende eines stressigen Tages. Minuten der Besinnung, in denen kein Telefon nervt, in denen kein „Herr Hüppe, könnten Sie mal kurz...!“ an sein Ohr dringt. In diesen Minuten gibt es nur ihn und die Firma, sein Lebenswerk, für das er seit Jahrzehnten bis zur Erschöpfung schuftet.

Wie viele Entscheidungen er schon während dieser kleinen Runden getroffen hat? Er weiß es nicht. Zu viel ist passiert in den vielen Jahren. Stundenlang kann Hüppe von früher erzählen. Wie er 1973 als junger Betriebswirt anheuerte bei der Sieben-Mann-Bude im westfälischen Herten. Wie er den Betrieb übernahm, als der Gründer plötzlich starb. Und wie, mitten in den Boom-Jahren der Wiedervereinigung, die Verantwortung allein auf ihm lastete.

Der 60-Jährige ist fast auf den Tag genau so alt wie der Staat, in dem er lebt. Ein typischer Mittelständler, immer vorn dabei und doch bescheiden, immer um Fairness bemüht und doch manchmal sehr bestimmend. Sein Unternehmen: außerhalb der Branche unbekannt, aber seit Jahrzehnten überaus erfolgreich. Wie Tausende andere solcher Hüppes, die unauffällig, aber mit Fleiß, Geschick und Hartnäckigkeit Millionen Arbeitsplätze geschaffen und den Aufstieg des Landes begründet haben.

Geschäfte wurden per Handschlag gemacht

Der junge Hüppe muss hart kämpfen für sein Glück. Er wird in die beschwerlichen Nachkriegsjahre hineingeboren, wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Im Elternhaus in Bottrop-Kirchhellen gibt es anfangs nicht einmal elektrisches Licht und fließend Wasser. Dafür zwei Schweine, Hühner und sonstiges Viehzeug – man musste sich ja irgendwie selbst versorgen.

Hüppe macht nach Volks- und Handelsschule eine Kaufmannslehre bei einem Gladbecker Chemieunternehmen. Der Schreinersohn will mehr, hat nach nur sechs Semestern den Betriebswirt in der Tasche. Die Arbeitgeber reißen sich um Absolventen wie ihn. Anfang der Siebzigerjahre brummt die Wirtschaft. Seine Kommilitonen lachen ihn aus, als Hüppe ausgerechnet bei der winzigen Matratzenfabrik Verholt anfängt. Doch die Anonymität der Großkonzerne ist seine Sache nicht. Den Gründer Karl-Heinz Verholt dagegen kennt Hüppe aus der Kirchengemeinde.

Es ist eine Zeit, in der Geschäfte per Handschlag gemacht werden. Die ersten Rechnungen schreibt Hüppe auf einer „Gabriele“, einer kleinen Reiseschreibmaschine von Triumph-Adler. Die junge Firma wächst, und um sie herum verändert sich die Welt in atemberaubendem Tempo. In Herten macht die Zeche Ewald dicht, Tausende Bergleute verlieren ihre Jobs. Hüppe hat den Strukturwandel vor Augen, er muss nur aus dem Fenster schauen: Die Abraumhalde der Zeche, an deren Fuß die Verholt-Hallen liegen, ist heute ein Freizeitpark.

„Das Label ,made in Germany‘ ist Gold wert“

Und während im kleinen Herten die Arbeitslosenquoten zweistellig werden, wachsen draußen im globalen Dorf die Märkte zusammen. Hüppe macht mit. Stoffe und Gestelle kommen aus China, doch er produziert – darauf legt der Unternehmer großen Wert – in Deutschland. Seine Konkurrenten lassen ihre Möbel in Osteuropa zusammenschrauben, Hüppe nicht. „Das Label ,made in Germany‘ ist Gold wert“, sagt er, „wir versuchen, mit Qualität, Design und Service zu punkten.“

Das prägendste politische Ereignis in gut 35 Jahren Unternehmertum? Hüppe überlegt nur kurz, dann strahlen seine blauen Augen: „Der Fall der Mauer. Dass ich das miterleben durfte, macht mich unendlich dankbar.“ Auch das Unternehmen profitiert. Alle wollen seine Bettsofas kaufen. „Wir konnten gar nicht so schnell produzieren, wie neue Aufträge reinkamen“, erinnert sich Hüppe.

Dieser Boom ist lange vorbei. Doch auch jetzt in der Krise wächst das Unternehmen. Vielleicht kann er auch deshalb das ständige Nörgeln und Schlechtreden nicht ertragen. Über seine Heimat mit ihren sozialen Errungenschaften und ihrem Wohlstand spricht er mit Stolz. „Die Bürger dieses Landes haben in den vergangenen 60 Jahren Großes geleistet, das sollten wir bei aller Kritik nie vergessen.“ Man müsse vielmehr dankbar sein.

Das haben seine Mitarbeiter schon beherzigt. Sie empfingen vergangene Woche ihren Chef mit einen Geburtstagsständchen. Und schenkten ihm zwei Karten für die Oper, Mozarts Zauberflöte, weil er doch Musik so sehr liebt. Ausnahmsweise hat sich Hüppe an diesem Tag mal ein kleines Päuschen gegönnt, ist schon nachmittags nach Hause gegangen. „Aber morgen“, versprach er den Mitarbeitern, „geht’s wieder richtig los.“

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