60 Jahre soziale Marktwirtschaft Die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung

Der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff und der SPD-Linke Ottmar Schreiner streiten über Erbe, Irrwege und Zukunft der sozialen Marktwirtschaft.

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Ottmar Schreiner und Otto Graf Lambsdorff Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Graf Lambsdorff, wie haben Sie vor 60 Jahren den Beginn der sozialen Marktwirtschaft erlebt?

Lambsdorff: Der 20. Juni 1948 war ein Montag. Ich hatte in der Nacht von Samstag auf Sonntag zu einer Party eingeladen. Der Auftritt der Kapelle war noch mit Reichsmark vorfinanziert. Als wir am Ende des Abends die Musiker mit einigen Reichsmark extra dazu bewegen wollten, noch eine Stunde länger zu spielen, hatten die wenig Lust. Mit der D-Mark war dann über Nacht alles anders. Die Schaufenster waren voll mit Waren. Das war für mich der Beweis, dass stabiles Geld ungeahnte Kräfte freisetzt und Angebote schafft.

An welche Marke erinnern Sie sich am besten?

Lambsdorff: Ich studierte damals in Köln und vermittelte Wohnungen an Messebesucher. Von meinem ersten selbst verdienten Geld habe ich mir einen Mont-blanc-Füllfederhalter der Marke Meisterstück gekauft. Der funktioniert heute noch.

WirtschaftsWoche: Herr Schreiner, haben Sie die soziale Marktwirtschaft positiv oder negativ empfunden?

Schreiner: Ich konnte als erstes Kind einer großen Familie in den Fünfzigerjahren ein Gymnasium besuchen. Die soziale Marktwirtschaft war ohne Zweifel die ökonomische Grundlage für eine Gesellschaft, die sozialen Aufstieg für die anbot, die wollten und die geistigen Voraussetzungen mitbrachten. Ich habe jedoch große Zweifel, ob dies heute noch der Fall ist.

Lambsdorff: In der Einschätzung der damaligen Chancen liegen Herr Schreiner und ich nicht weit auseinander. Ich war Kriegsbeschädigter mit einer alten Wehrmachtsuniform und 70 Mark Rente und konnte nicht einmal davon träumen, was ich später erreichen würde. Im Gegensatz zu Herrn Schreiner bin ich jedoch der Ansicht, dass diese Gesellschaftsordnung heute zu sozial geworden ist. Der Sozialstaat hat die Marktwirtschaft in weiten Teilen außer Kraft gesetzt.

Zu sozial oder zu unsozial, was gilt denn nun?

Schreiner: Unsozial ist die hohe Arbeitslosigkeit. Unsozial ist, dass Millionen Menschen arbeiten, ohne selbst ihr Existenzminimum erwirtschaften zu können. Unsozial ist auch das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich. Und dass die Arbeitnehmerschaft seit zehn, zwölf Jahren von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abgekoppelt wird. Wer dennoch wie Sie, Graf Lambsdorff, das Wort „sozial“ in den letzten Jahren zum Unwort erklärte, hat der sozialen Marktwirtschaft schweren Schaden zugefügt, weil Sie damit die Spannungen noch vertiefen.

Teilen Sie die Anamnese, Graf Lambsdorff?

Lambsdorff: Nur mit Einschränkungen. Wir können uns Sozialpolitik nur leisten, wenn wir erfolgreich wirtschaften. Ohne eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik gibt es auch nicht genügend Arbeitsplätze. Zu viel Sozialleistungen belasten dagegen die Unternehmen und nehmen den Bürgern auch den Antrieb, sich selbst zu helfen. Da halte ich es mit John F. Kennedy, der einst sagte: „Wenn du nach einer helfenden Hand suchst, dann sieh erst mal an deinem rechten Arm nach, bevor du nach der Hand des Staates greifst.“

Schreiner: Trotzdem brauchen wir einen starken Sozialstaat mehr denn je. Die Armut greift in Deutschland um sich, jeder Vierte gilt bereits als armutsgefährdet. Ludwig Erhard wollte „Wohlstand für alle“ und nicht „Armut für immer mehr“.

Lambsdorff: Erhard verstand unter „Wohlstand für alle“ aber nicht, dass man sein Geld aus der Staatskasse abholt. Bei 700 Milliarden Euro staatlicher Umverteilung, einem Drittel des Bruttosozialproduktes, sind wir in einem System, von dem sich Erhard mit Grausen abgewendet hätte.

Schreiner: Ich kann nicht akzeptieren, wenn Sie eine Umverteilung von einem Drittel für übertrieben halten. Diese Umverteilung ist der wichtigste Beitrag der sozialen Marktwirtschaft zur politischen Stabilität unserer Demokratie. Und dieser Beitrag von einem Drittel des BIPs ist seit den Siebzigerjahren konstant – trotz der Wiedervereinigung.

Aber hat uns der Transfer von einem Drittel des Inlandsprodukts nicht überfordert und zu einer explodierenden Staatsverschuldung geführt, gegen die jetzt die große Koalition angeht?

Schreiner: Ich bin nicht der stabilste Träger dieser großen Koalition. Aber wenn wir uns die gesamtstaatliche Verschuldung von 1,5 Billionen Euro anschauen, dann ist doch ein Großteil davon auf die Finanzierung der deutschen Einheit zurückzuführen. Auch die schwierige Lage der Sozialversicherungssysteme liegt doch daran, dass wir die sozialen Lasten der deutschen Einheit darüber laufen lassen.

Stiegen denn die Sozialausgaben nicht schon vor der Einheit? Und hängen Verschuldung und Arbeitslosigkeit nicht zusammen?

Lambsdorff: Da gibt es natürlich diesen Zusammenhang. Und wenn jetzt die Regierung die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Langzeitarbeitslose verlängert, macht sie die gleichen Fehler wie damals Norbert Blüm unter der Regierung Kohl. Es mag vielleicht hart klingen, aber wenn man keinen Druck zur Arbeitsaufnahme ausübt, verlängert sich die Arbeitslosigkeit. Von 1983 bis 1989 haben wir in der christlich-liberalen Koalition übrigens eine der erfolgreichsten Wirtschafts- und Sozialpolitiken in den 60 Jahren unserer sozialen Marktwirtschaft betrieben und Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Inflation und Steuerlast deutlich gesenkt. Das änderte sich erst mit der deutschen Einheit. Die Ostdeutschen wurden etwa in der Rentenversicherung so behandelt, als hätten sie immer schon in die Kasse eingezahlt. Der Beschluss fiel der Regierung umso leichter, als bei der Rentenversicherung kein Kapitalstock aufgebaut wird, aus dessen Erträgen die jeweiligen Renten bezahlt werden. Bei diesem anonymen Umlageverfahren kann der Staat bequemer in die Rentenkasse langen, da er kein angespartes Kapital für alle sichtbar anzapft.

Ging es nach dem Mauerfall mit der sozialen Marktwirtschaft bergab?

Schreiner: Ich würde die Zäsur etwas später ansetzen. Mitte der Neunzigerjahre begann die Lohnspreizung in Ostdeutschland, die teilweise auch auf den Westen übergegriffen hat. Diese Entwicklung hat die rot-grüne Regierung noch massiv befördert mit ihren Hartz-Gesetzen.

Lambsdorff: Aber die Agenda 2010 hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir in Deutschland eine wirtschaftliche Leistungskraft zurückgewonnen haben, um die uns viele Nachbarländer beneiden. Deshalb haben die Liberalen die Agenda 2010 von Anfang an verteidigt.

Schreiner: Dass Sie die Agenda-Politik unterstützen, hätte mich gleich stutzig machen sollen. Die Agenda 2010 ist alles andere als sozial. Der Schlüsselsatz lautet darin: Einem Arbeitslosen ist jede Arbeit bei jedem Einkommen zumutbar. Damit haben wir die Arbeitgeber geradezu eingeladen, Arbeit zu Dumpinglöhnen anzubieten. In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Beschäftigten, die Bruttolöhne von unter fünf Euro pro Stunde bekommen, von 1,4 auf 1,9 Millionen gestiegen. Davon kann kein Mensch leben. Das ist die Schattenseite. Und wenn auf der Sonnenseite Millionenabfindungen für gescheiterte Manager gezahlt werden, stimmen die Relationen nicht mehr. Das wusste auch Erhard, der die alten Verhältnisse einer kleinen reichen Oberschicht und einer breiten Unterschicht überwinden wollte. Er wollte eine breite Massenkaufkraft. Davon haben wir uns in den vergangenen zehn Jahren weit entfernt.

Lambsdorff: Über die Ausreißer nach oben brauchen wir nicht zu streiten, da gebe ich Ihnen recht. Über die Ausreißer nach unten müssen wir näher reden. Denen müssen wir helfen, mit ergänzender Sozialhilfe. Aber es geht nicht an, dass sich Arbeitsfähige verweigern, zumindest einen Teilbeitrag zu leisten, um sich selbst zu ernähren. Im Übrigen braucht jede Wettbewerbsgesellschaft, lieber Herr Schreiner, ein gewisses Maß an Ungleichheit.

Führt nicht genau die gefühlte Ungleichheit zu den Akzeptanzproblemen, die die soziale Marktwirtschaft heute nicht nur in Ostdeutschland hat, sondern inzwischen auch im Westen?

Lambsdorff: Das wundert mich nicht, denn wenn man die Bürger fragt, was sie lieber wollen – Freiheit oder Sicherheit –, entscheiden sie sich lieber für die vom Staat gewährte Sicherheit. Das war schon zu Erhards Zeiten so. Politiker müssen deshalb, dies lehrt uns die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft, gelegentlich auch unpopuläre Maßnahmen ergreifen. Ohne Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung geht es nicht.

Schreiner: Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich die Menschen so nehmen, wie sie sind. Wenn gerade mal 15 Prozent der Deutschen sagen, dass es in diesem Lande noch sozial gerecht zugeht, muss die Politik doch reagieren. Die sozialen Spaltungsprozesse erreichen allmählich demokratiegefährdende Ausmaße. Es war immer ein Grundkonsens in der Bundesrepublik, dass es einen sozialen Ausgleich gibt.

Lambsdorff: Mit dem Wort „Demokratiegefährdung“ wäre ich vorsichtig nach meiner eigenen Erfahrung. Im Schlusssatz meines Papiers von 1982...

...dem berühmten Wendepapier, das Sie als Wirtschaftsminister verfassten und das das Ende der sozialliberalen Koalition besiegelte...

Lambsdorff: ...habe ich an Bundeskanzler Helmut Schmidt geschrieben, dass wir mit 1,5 Millionen Arbeitslosen dabei seien, die demokratischen Grundlagen dieses Staates zu gefährden. Später haben wir sogar fünf Millionen Arbeitslose gehabt, und trotzdem sah keiner die Demokratie gefährdet.

Wie, wenn nicht mit wirtschaftlichen und sozialen Reformen wie bei der Agenda 2010, wollen Sie auf die Herausforderungen der Globalisierung und Demografie reagieren?

Schreiner: Deutschland gehört grundsätzlich zu den Gewinnern der Globalisierung. Der Export brummt, unsere Maschinen sind in aller Welt gefragt. Die Kehrseite ist, dass die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten rasant steigen. Weniger gefragt sind die Einfach- und Unqualifizierten. Hier müssen wir ansetzen, um Deutschland zukunftsfest zu machen.

Das heißt also?

Schreiner: Wenn ich an Schröders Stelle Bundeskanzler gewesen wäre, hätte ich Deutschland nicht mit der Agenda 2010 gespalten, sondern über Qualifizierung wieder zusammengeführt. Ich hätte vor zehn Jahren eine große Bildungsreform gestartet. Es ist doch skandalös: Zehn Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss, 40 Prozent sind es bei den Migrationskindern – mit null Perspektive am Arbeitsplatz. Unsere vorschulischen Einrichtungen sind bestenfalls noch Kinderverwahranstalten. In nahezu allen Bereichen ist unser Bildungssystem nicht auf der Höhe der Zeit. Wegen unserer hinterwäldlerischen Kleinstaaterei haben wir ein Bildungssystem, das nicht mehr die Anforderungen in unserer Arbeitswelt erfüllt.

Lambsdorff: Wir haben doch die Bildungsstandards in den Ländern schon so weit vereinheitlicht, dass es fast gegen den föderalen Geist des Grundgesetzes verstößt. Die Kultusministerkonferenz dagegen reagiert so langsam auf neue Herausforderungen, dass verglichen damit das Reichskammergericht ein Ausbund an modernem Management war. Aber ich gebe Ihnen recht, dass die deutschen Lehrer und Schüler sich gewaltig auf den Hosenboden setzen müssen, wenn sie im Wettbewerb mit den leistungshungrigen Chinesen und Indern nicht zurückfallen wollen.

Wo würden Sie die zusätzlichen Mittel für die Bildung hernehmen, wo kürzen?

Schreiner: Wieso kürzen? Das fällt Ihnen immer gleich ein. Sie können bei der Rente doch gar nicht mehr kürzen. Wir bekommen in den nächsten Jahren eine dramatische Altersarmut. Bald erreichen Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, die mit Minijobs und Billiglöhnen abgespeist wurden, die Altersgrenze. Woher das Geld nehmen? Der Anteil von Erbschaft-, Schenkung- und Grundsteuer liegt in Deutschland bei 0,8 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, in Großbritannien bei 4,2 und in Frankreich bei 3,6 Prozent. Bei 250 Milliarden Euro Erbschaften, die hier jährlich anfallen, könnten wir, wenn wir französische Standards hätten, das öffentliche Bildungssystem mit 20 Milliarden Euro mehr finanzieren. Das wäre ganz im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft mit Aufstiegschancen.

Lambsdorff: Das ist eine eigenwillige Interpretation von sozialer Marktwirtschaft. Ihnen fallen immer nur mehr Steuern ein.

Schreiner: Aber wir haben doch nur eine Steuerquote von 22 Prozent.

Lambsdorff: Dafür haben wir eine gewaltige Abgabenquote. Und höhere Staatseinnahmen können nicht das Ziel einer dynamischen Volkswirtschaft sein.

Wie schätzen Sie die Zukunftsaussichten unserer sozialen Marktwirtschaft ein?

Schreiner: Der Mittelstand war einmal die tragende Säule der sozialen Marktwirtschaft. Jetzt ist sie die am meisten gebeutelte Gruppe. Die Leute mit 4400 Euro brutto werden mit dem Spitzensteuersatz belastet und zahlen die höchsten Sozialbeiträge. Da sollten wir entlasten. Aber mir leuchtet nicht ein, warum Spitzenverdiener mit mehr als 100 000 Euro Jahreseinkommen in den letzten Jahren entlastet werden mussten. Wir müssen die unsozialen Reformen der vergangenen Jahre zurückdrehen, dann sehe ich wieder eine Perspektive für eine solidarische Gesellschaft.

Lambsdorff: Es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage: Wir brauchen noch mehr Agenda 2010. Denn die demografische Alterung ist eine dramatische Entwicklung, die wir mit unserem heutigen Sozialsystemen nicht meistern werden. Aber wenn ich 60 Jahre zurückblicke, als Deutschland in Trümmern lag, und sehe, was wir damals erreichten, halte ich die heutigen Herausforderungen für beherrschbar.

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