Digitalisierung Das Netz braucht ein Verantwortungs-Update – jetzt!

Unser Recht muss für das Webzeitalter angepasst werden Quelle: imago

Das Internet ist kein gesetzloser Raum. Wenn die Bundesregierung die Digitalisierung ernst nehmen will, muss sie unser Recht endlich fit machen für das Webzeitalter.

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Es ist kaum zu glauben, aber es ist trotzdem wahr: Eine ernsthafte öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie Rechtsdurchsetzung im Internet funktionieren kann, findet erst jetzt statt – ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach Beginn des Internetzeitalters, ausgelöst vor allem durch die Debatte um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dabei sind die Probleme, um die es geht, so alt wie das Web selbst: Wer steht in der digitalen Welt an welcher Stelle und für was gerade? Wer übernimmt Verantwortung für Inhalte? Und: Wer haftet? Diese Fragen drängen nun mit Macht ins Bewusstsein der Mehrheit.

Dabei gibt es Branchen, die sich seit der Jahrtausendwende um Antworten bemühen. Nicht, weil sie wollten, sondern weil sie es mussten. Allen voran die Musikindustrie, bekanntlich eine der Ersten, die vom Sturm der Digitalisierung getroffen wurde. Eine Halbierung des weltweiten Umsatzes innerhalb eines Jahrzehnts war die Folge. Das war schmerzhaft, aber wir haben daraus gelernt.

Inzwischen hat sich die Branche das Netz erfolgreich erschlossen, erwirtschaftet weltweit gut die Hälfte der Umsätze im Digitalbereich und hat Geschäftsmodelle entwickelt, die von vielen anderen Branchen später übernommen worden sind. Das ist jedoch kein Grund zum Aufatmen. 

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Je größer das Gewicht von Onlinemärkten, desto wichtiger ist ein rechtliches Koordinatensystem, das Verantwortung und Haftung im digitalen Raum nachvollziehbar und belastbar regelt. Alle Akteure müssen anerkennen und auch spüren, dass sie eine Verantwortung für ihr Handeln tragen, vom einzelnen Bürger bis zur Plattform, offline wie online. Rechte und Pflichten aller Beteiligten müssen gesetzlich so klar wie möglich herausgearbeitet werden, damit jeder weiß, auf was er sich in welcher Rolle einlässt.

Ein Beispiel aus der Kreativbranche: Es ist im Sinne einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht akzeptabel, dass ein Dienst wie YouTube noch 2018 auf ein veraltetes Regelwerk verweisen und als vermeintlich „technisch neutrale“ Plattform eine angemessene Bezahlung kreativer Inhalte umgehen kann, die Nutzer auf die Plattform laden. YouTube ist mit mehr als einer Milliarde Nutzer der größte Musikdienst der Welt, der den Content analysiert, kuratiert und daran wesentlich partizipiert. Im Klartext: YouTube verdient Geld mit den Inhalten anderer, will aber dafür selbst nur eine Art Obolus bezahlen, über dessen Höhe das Unternehmen selbst befindet. 

Das führt zu einer absurden wie gefährlichen Marktsituation, auf die die Musikbranche unter dem Stichwort Wertschöpfungslücke („Value Gap“) seit Jahren hinweist: Hier Dienste wie YouTube, die Lizenzierungspflichten nicht anerkennen. Dort Musikdienste wie Spotify, Apple Music oder Amazon, die zu ihrer Rolle als Inhalteanbieter stehen. Sie sind es, die den Rechteinhabern handelsübliche Lizenzen zahlen, ohne die die Branche ihre Investitionen nicht refinanzieren könnte. Mit anderen Worten: Ohne diese Einnahme würde sie über kurz oder lang ihrer Existenzgrundlage beraubt. Sehr zu begrüßen ist deshalb nun die im Koalitionsvertrag formulierte Absicht von Union und SPD, digitale Plattformen und Vermittler an der Vergütung der kulturellen und medialen Inhalte angemessen beteiligen zu wollen – bleibt nur zu hoffen, dass sich dieser politische Wille auch schnell in Aktion niederschlägt. Es gilt, auch mit Blick auf Brüssel, keine Zeit zu verlieren.

Was können wir aus diesem Fall lernen? Wir müssen als Gesellschaft begreifen, dass der Rechtsraum Internet buchstäblich alles umfasst. Dass es um alle Rechtsgüter geht, egal, ob um Privatsphäre, Ehre oder Eigentum. Dass wir also etwa das hohe Gut der Meinungsfreiheit zwangsläufig im selben juristischen Kontext sehen und besprechen müssen wie die Verbreitung gefälschter Parfüms, Medikamente oder Turnschuhe, wie Werbung auf illegalen Seiten oder illegal verbreitete Filme und Musikalben.

Das heißt nicht, dass die daraus resultierenden Maßnahmen immer identisch sein müssen. Sicher aber ist: Wenn Verantwortung nicht klar geregelt ist, führt das zur Erosion des Rechts – und damit zu einer Schwächung des Rechtsstaates, der aber den Anspruch haben muss, Rechtsverletzungen verlässlich sanktionieren zu können. Und zwar, noch mal, analog genauso wie digital!

Die derzeitige Diskussion auf den verschiedenen Ebenen spiegelt, dass Unklarheiten in Haftungs- und Eigentumsfragen gesellschaftlich und eben auch wirtschaftlich nicht mehr hingenommen werden können. Sie zeigt aber auch, wie komplex es ist, Lösungen zu finden. Es ist deshalb gut und lässt hoffen, dass die voraussichtlich nächste Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag das Thema „Verantwortung“ an zahlreichen Stellen aufgreift. Ganz egal, ob es sich um Kartellrecht, Besteuerung, Lizenzierungsfragen oder die illegale Verbreitung von Musik, Filmen und Texten im Netz handelt; ob es um Fake News oder um Hate Speech geht – immer wird eines deutlich: Wir sind als Gesellschaft mit Phänomenen konfrontiert, die eines gemeinsam haben. Wir können ihnen nur beikommen, wenn wir in Zukunft eindeutige rechtliche Verantwortlichkeiten schaffen.

Übrigens, an diejenigen unter uns, die an dieser Stelle (einmal mehr) meinen, die Freiheit des Netzes werde dadurch preisgegeben, sei eines gesagt: Es geht hier nicht um „Überregulierung“. Sondern um notwendige gesellschaftliche Klarstellungen des Umgangs miteinander in der Onlinewelt. Um den Erhalt eines funktionierenden Wirtschaftsraums im Sinne aller Beteiligten – für Plattformen und Rechteinhaber, für Wirtschaft, Start-ups und, nicht zuletzt, die Bürgerinnen und Bürger. Unsere Smartphones bekommen schon bald tägliche Updates – ein Verantwortungs-Update im digitalen Raum ist mehr als überfällig.

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