Ab Inzidenz von 200 Beschränkte Bewegungsfreiheit in Corona-Hotspots – Was hinter dem Beschluss steckt

Der Beschluss, Menschen in ihrem Bewegungsradius auf 15 Kilometer zu begrenzen, sorgt für Diskussionen. Die wichtigsten Antworten zu dieser Maßnahme.

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Leere Innenstädte: In Sachsen gibt es bereits Ausgangssperren. Quelle: dpa

Sachsen hat es vorgemacht, andere Länder ziehen jetzt nach. Wer in einem Corona-Hotspot wohnt, muss noch weitergehende Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit hinnehmen. Der Radius soll auf 15 Kilometer begrenzt werden.

Warum wollen Bund und Länder die Coronamaßnahmen weiter verschärfen?

Wissenschaft und Politik wollen die sogenannte 7-Tage-Inzidenz auf unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner senken. Der Wert bildet ab, wie viele Menschen sich binnen sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert haben. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) lagen am Dienstag nur 21 von insgesamt 401 Stadt- und Landkreisen unterhalb der gewünschten Grenze von 50 Neuinfektionen. 68 Kreise wiesen gar eine Inzidenz von mehr als 200 auf. Hier soll die Bewegungsfreiheit drastischer als bisher begrenzt werden.

Was genau sehen die neuen Maßnahmen vor?

Wer in einem Landkreis mit besonders vielen Neuinfektionen lebt und keinen „triftigen Grund“ hat, soll einen Radius von 15 Kilometern um seinen Wohnort herum nicht verlassen. Ein solcher Grund zum Beispiel ist der Weg zur Arbeit – „tagestouristische Ausflüge“ gehören nicht dazu. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärte, innerhalb einer Stadt mit hoher Inzidenz solle man sich aber auch über die 15 Kilometer hinaus frei bewegen können.

Was halten Wissenschaftler von solchen Beschränkungen?

Wissenschaftliche Erkenntnisse, die über die Empfehlung, daheim zu bleiben, hinausgingen, seien ihm nicht bekannt, sagte Hajo Zeeb vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie der Deutschen Presse-Agentur. „Wenn man einen vollständigen Lockdown macht wie in Italien, dass man nicht mehr aus dem Haus gehen darf, dann führt das zu einer Verringerung.“

Ähnlich sei es am Ursprungsort der Pandemie in Wuhan in China gewesen, wo einzelne Wohnblocks abgeriegelt waren und die Bewohner mit physischen Barrieren am Verlassen ihrer Häuser gehindert wurden.

„Die Diskussion zielt immer noch sehr auf die gesamtgesellschaftliche Kontaktreduzierung“, sagte Gerard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Dabei seien vor allem gezielte Hygieneschutzmaßnahmen für die alte Generation nötig, denn bei ihr gebe es die meisten Todesfälle.

Wie reagieren die Bundesländer?

Niedersachsen will die Beschränkung der Bewegungsfreiheit in Hotspots nicht ohne weiteres umsetzen. Nötig sei eine gesonderte Begründung zur Verhältnismäßigkeit, wie sie das Oberverwaltungsgericht bereits bei anderen Einschränkungen angemahnt hat, sagte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am Dienstagabend in Hannover. „Das ist für uns Teil des Prüfprogramms, ob und wann die Regelung zur Anwendung kommt, am liebsten gar nicht.“ Sowohl bei der Einführung einer Sperrstunde als auch beim Böllerverbot habe das Gericht eine triftige Begründung verlangt, der bloße Verweis auf die Bund-Länder-Beschlüsse habe den Richtern nicht gereicht, erklärte Weil.

Auch Baden-Württemberg hält sich die Entscheidung über die Verschärfung einiger Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie noch offen. Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf einen Radius von 15 Kilometern um den Wohnort in Corona-Hotspots mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 200 sei zunächst nicht geplant, erklärte Ministerpräsident Winfried Kretschmann. „Wir müssen erstmal zu belastbaren Werten nächste Woche kommen, um darüber zu entscheiden.“ Zuletzt lag die Zahl nur in zwei Kreisen im Südwesten knapp über 200, in zwei weiteren knapp darunter.

Zweifel an den Kontrollmöglichkeiten des eingeschränkten Bewegungsradius weist NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zurück. „Ich stehe zu dem, was die Ministerpräsidenten beschlossen haben. Und was beschlossen wird, wird auch durchgesetzt“ sagt der CDU-Politiker am Dienstagabend in Düsseldorf.

Ist die Bewegungsfreiheit nicht durch das Grundgesetz geschützt?

Im Kern ja. „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet“, heißt es in Artikel 11. Doch es gibt Ausnahmen – wie bei Naturkatastrophen oder zur „Bekämpfung von Seuchengefahr“. Die rechtliche Basis, um die Bewegungsfreiheit im Notfall einzuschränken, liefert das im November erneut reformierte Infektionsschutzgesetz.

Zu den hier erstmals formulierten Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie zählen neben der Maskenpflicht und einem Abstandsgebot auch „Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen“. Besonders schwere Einschränkungen von Grundrechten – wie Ausgangsbeschränkungen – sind laut Bundesregierung nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Zum Beispiel dann, wenn andere Maßnahmen nicht geholfen haben.

Hat es hierzulande schon vergleichbare Einschnitte gegeben?

In Deutschland gab es das so bisher nur in Sachsen – seit Mitte Dezember. Hier dürfen sich die Bürger nur „im Umkreis von 15 Kilometern des Wohnbereichs, der Unterkunft oder des Arbeitsplatzes“ entfernen – etwa zum Einkauf, für Arztbesuche, Sport oder Spaziergänge. Für das ebenfalls stark von betroffene Thüringen hat Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) kürzlich eine entsprechende Regelung vorgeschlagen.

Schleswig-Holstein hatte Mitte März ein Einreiseverbot verhängt, das vor allem für Hamburger einer Begrenzung der Bewegungsmöglichkeiten gleichkam. Es galt für Touristen, Tagesausflügler und Besitzer von Zweitwohnungen. Hamburger konnten damit zwar weiter in den Süden fahren, aber der Norden war ihnen verwehrt.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

In Frankreich zum Beispiel durften die Menschen zeitweise nur mit triftigem Grund vor die Tür und mussten diesen bei Kontrollen mit einem Formular nachweisen. Für Spaziergänge oder Sport galt eine Begrenzung von einer Stunde pro Tag in einem Radius von maximal einem Kilometer zur eigenen Wohnung. In Katalonien im Nordosten Spaniens war vorige Woche angeordnet worden, dass die Menschen ihre Gemeinde zehn Tage lang nur mit triftigem Grund verlassen dürfen, etwa um zur Arbeit zu fahren.

Auch in England sollen künftig wieder weitreichende Ausgangsbeschränkungen gelten. Die Bürger dürfen ihre Wohnung demnach nur noch für notwendige Aktivitäten wie Arztbesuche oder die Arbeit verlassen. Wie Premierminister Boris Johnson am Montagabend in einer Fernsehansprache ankündigte, sollen die Maßnahmen vermutlich bis Mitte Februar gelten. Im Parlament wird an diesem Mittwoch mit breiter Zustimmung gerechnet.

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