Boris Pistorius wusste offenbar von nichts. Als ARD-Moderatorin Anne Will den neuen Verteidigungsminister am Sonntagabend auf Berichte über einen Streit zwischen seinem US-Amtskollegen und dem Chef des Kanzleramts ansprach, konnte Pistorius im Grunde nur ausweichen. „Zweitrangig“ seien solche Fragen, sagte der Minister.
Dabei bleibt vieles unklar: Warum verzögert Bundeskanzler Olaf Scholz die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern an die Ukraine? Und welche Rolle spielt die US-amerikanische Verweigerung, eigene Abrams-Panzer nach Europa zu schicken, für diese Entscheidung? Wenn schon der Verteidigungsminister keine rechte Antwort auf diese Fragen weiß, ebnet die Regierung damit zwangsläufig schädlichen Gerüchten den Boden. Wenn sich diese dann auch noch mit Scheinlogiken in der öffentlichen Debatte festsetzen, liegt das auch an fehlerhafter Krisenkommunikation.
Ein prominentes Beispiel vom Wochenende: Scholz zögere, weil er die Expansion US-amerikanischer Rüster in Europa befürchte. Wenn die Leos erst einmal an der Ukraine-Front kämpften, so die Logik, brauche der leer gefegte europäische Panzer-Markt irgendwoher Ersatz. Einen Nachschub, den die seit Jahren klein gesparte deutsche Rüstungsindustrie kaum gewährleisten könne. Auftritt: USA, die mit ihren Abrams nur zu gerne einspringen würden.
Ein Verdrängungskampf und wirtschaftliches Eigeninteresse unter dem Deckmantel militärischer Hilfe? Man möchte seufzen, wenn es nicht viel ernster wäre. Keine Frage: Die US-Regierung verfolgt natürlich auch die Interessen ihrer Industrie. Es sind aber nicht irgendwelche geheimen Pläne, die den europäischen Rüstungsmarkt aktuell bedrohen. Und schon gar nicht die Lieferung von Restbeständen an Leopard-2-Panzern an die Ukraine.
Erstens profitieren nicht die USA davon, dass europäische Partner ihre landgestützten Systeme zunehmend im Ausland einkaufen. Mittlerweile sei vor allem Südkorea “der größte nicht-europäische Lieferant für bodenbasierte Waffensysteme außerhalb Europas“, wie der Rüstungsexperte Matthias Wachter vom Bundesverband der Deutschen Industrie schreibt. Polen verhandelt zwar auch mit den USA, stellt seine Streitkräfte aber primär auf koreanische K2-Panzer um. In deutschen Rüstungskreisen heißt es als Grund dafür, dass die polnische Regierung eben nicht abhängig sein wolle von den Vereinigten Staaten, auch wenn sie dort bereits Abrams-Panzer eingekauft hat. Auch die Balten, Finnen und Norweger setzen dementsprechend auf Haubitzen aus Korea.
So viele Leopard-2-Panzer haben die europäischen Nato-Staaten
Die deutsche Bundeswehr hat ihre älteren Leopard-Panzer ausgemustert oder an andere Länder abgegeben. Darunter fallen Modelle des Typs 2A4, aber auch der Leopard-1-Generation. Von den neueren Modellen hat sie rund 320, die genaue Zahl wird aber geheim gehalten.
Die Niederlande haben 18 Leopard-2A6-Panzer aus Deutschland geleast. Diese sind Teil des deutsch-niederländischen Panzerbataillons und im niedersächsischen Bergen-Hohne stationiert.
Eine genaue Anzahl der Leopard-Panzer geben Verteidigungsministerium, -kommando und die für den Einkauf zuständige Verwaltungsbehörde in Dänemark nicht preis. Jedoch wurden 14 Panzer laut Militärangaben im September erstmals auf einen internationalen Einsatz nach Estland geschickt.
Finnland ist noch kein Nato-Mitglied, hat allerdings signalisiert, einige Leopard-Panzer an die Ukraine liefern zu können. Nach Angaben des finnischen Verteidigungskommandos besitzen die Finnen rund 200 Leopard-2-Panzer.
Laut Verteidigungsministerium hat Norwegen im Jahr 2001 52 gebrauchte Leopard 2A4 von den Niederlanden gekauft. Einige davon sind im Einsatz, andere werden als Ersatzteillager verwendet oder sogar verschrottet. Wie viele Panzer genau einsatzfähig sind, sagte das Ministerium nicht.
Aus Schweden gibt es keine Angaben zur Anzahl der Leopard-Panzer. Allerdings gilt es als gesichert, dass Schweden mehr als 100 Panzer des Typs Leopard besitzt.
Griechenland hat eine im Vergleich große Zahl an Leopard-Panzern: So gibt es 170 vom Typ 2HEL, 183 vom älteren Typ 2A4 und 500 vom Typ 1A5 aus der vorhergegangenen Leopard-Generation. Die hohe Anzahl von Panzern liegt im ständigen Konflikt mit der Türkei begründet.
Das türkische Verteidigungsministerium äußert sich nicht zu Stückzahl und Bewaffnung. Nach Zahlen des International Institute for Strategic Studies (IISS) besitzt die Türkei 316 Leopard 2A4, 170 Leopard 1A4 und 227 Leopard 1A3.
Polen besitzt laut polnischem Verteidigungsministerium 247 Leopard-Kampfpanzer in den Versionen 2A4 und 2A5 sowie in der modernisierten Version PL.
Die Slowakei besitzt einen Leopard-Panzer. Bis Ende 2023 sollen es im Rahmen eines Ringtauschs insgesamt 15 werden. In die Ukraine wird davon wohl keiner geliefert.
Deutschland stellt Tschechien im Rahmen eines Ringtauschs 14 Leopard 2A4-Kampfpanzer und Bergepanzer Büffel zur Verfügung. Diese sind der Ersatz für an die Ukraine gelieferte Panzer sowjetischer Bauart. Aktuell besitzt Tschechien erst einen der 14 Leopard-Panzer. Ministerpräsident Petr Fiala betonte jüngst, dass man bei der Abgabe eigener Militärtechnik an die Grenze der Möglichkeiten gekommen sei.
Ungarn hat laut übereinstimmenden Medienberichten im Jahr 2020 zwölf Panzer vom Typ Leopard 2A4 vom Hersteller Kraus-Maffei gemietet, die Ausbildungszwecken dienen sollen. Dazu sollen in diesem Jahr 44 neue Leopard 2A7 kommen. Eine Lieferung an die Ukraine ist aufgrund der guten Beziehungen zwischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr unwahrscheinlich.
Vom portugiesischen Verteidigungsministerium gibt es keine Auskunft über die Leopard-Bestände. Laut Medienberichten haben die portugiesischen Streitkräfte 37 Leopard 2A6 im Einsatz.
Spanien nennt 347 Leopard-Panzer sein eigen. Davon gehören 108 zur älteren Variante 2A4 und 239 Leoparden zum Typ 2A6. Jedoch sind einige Panzer nicht einsatzbereit - manche sollten in die Ukraine geliefert werden. Nachdem es wochenlang Spekulationen über diese Lieferung gab, sagte Spaniens Verteidigungsministerin Margarita Robles im August, die Panzer seien in „einem absolut desolaten Zustand“. Die Lieferung kam nicht zustande.
Albanien, Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Montenegro, Nordmazedonien, Rumänien, Slowenien, das Vereinigte Königreich und Zypern.
Außerdem vertauscht das Abrams-Gerücht Ursache und Wirkung. Staaten wie Polen setzen zunehmend auf nicht-deutsche Produkte, weil sie von den Exportregeln der Bundesregierung für Rüstungsgüter genervt sind. In Finnland herrscht aktuell etwa eine laute Debatte darüber, ob man in Zukunft überhaupt noch deutsche Panzer kaufen wolle, wenn man im Ernstfall nicht einmal frei über diese verfügen könne. Es sind in dieser Lesart nicht die Auslieferungen der Panzer an die Ukraine, die europäische Partner an Made in Germany zweifeln lassen. Es sind die potenziellen politischen Probleme, die mit Bestellungen hierzulande einherzugehen scheinen.
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Gegen die Abrams-These spricht auch, dass der Export von Leopard 2 das Geschäft der deutschen Rüster ankurbeln würde, anstatt den Markt „leer zu fegen“. Denn wer Panzer liefert, liefert auch die Logistik, regelt die Ausbildung und kümmert sich um die Instandhaltung. Anders ausgedrückt: Wer exportiert, muss seine Produktion ausbauen. Und umgekehrt: Wo keine Abrams-Panzer in die Ukraine gehen, entsteht dafür auch keine europäische Logistik. Entsteht also auch kein Markt für US-Produkte.
Am Gerücht ist also wohl wenig dran. Und die Bundesregierung könnte ohne Probleme dagegen halten, wenn sie ihre Entscheidungswege klarer benennen würde. Stattdessen beruft sie sich auf die immer gleichen Floskeln möglicher Eskalation. Beschwört das Keine-Alleingänge-Mantra, obwohl niemand einen Alleingang verlangt. Oder starrt auf Umfragen, deren Ausgang sie selbst mitbestimmen könnte.
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