Ältere Arbeitnehmer Statistik-Wirrwarr um Rente mit 67

Die Bundesregierung muss eines der wichtigsten Reformprojekte überprüfen. Aber die Zahlen zur Beschäftigungsquote der älteren Generation haben wenig Aussagekraft, zu viele verschiedene Statistiken kursieren.

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Ein Arbeiter im Quelle: dpa

Bei Pythagoras war die Sache noch ganz einfach. Die Zahl sei das Wesen aller Dinge, hat der griechische Mathematiker vor 2500 Jahren geschrieben. Vermutlich dachte er dabei an eine unumstößliche Größe, die alles erklärt und die niemand beeinflussen kann. Vielleicht hätte Pythagoras schon damals an der Objektivität der Ziffer gezweifelt, wenn er geahnt hätte, dass es einst so etwas wie die deutsche Sozialstatistik geben würde.

In Berlin etwa basteln Regierungsmitglieder und Beamte seit Wochen an einer Zahl, die den Wohlfahrtsstaat auf Jahre prägen wird. Sie müssen herausfinden, wie viele Menschen jenseits des 55. Lebensjahres überhaupt noch einen Job haben. Nur dann nämlich, wenn die Älteren am Arbeitsmarkt tatsächlich noch gefragt sind, darf die Rente mit 67 vom nächsten Jahr an Gesetz werden. Und deshalb sollen die Zahlen möglichst gut ausfallen.

Aufklärung könnte ein Bericht bringen, den das Kabinett am Mittwoch berät. „Die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist vertretbar und bleibt notwendig“, so steht es bereits im Entwurf der Regierung. Zur Begründung findet sich etwa der Verweis auf eine Zahl: 2009 hätten rund 56 Prozent aller über 55-Jährigen einen Job gehabt. Damit sei dieser Anteil rasant gestiegen.

Statistiker kommen Ministerin entgegen

Allerdings kursieren über die Beschäftigungsquote der älteren Generation so viele Vermutungen, wie das Renten-Gesetz Buchstaben hat. Allein die Bundesregierung und ihre Behörden haben drei unterschiedliche Statistiken präsentiert – und dabei sind die Gegner der Rente mit 67 und ihre alternativen Berechnungen noch nicht mitgezählt.

Ursula von der Leyen ist von Amts wegen für das offizielle Zahlenwerk zuständig. In ihrem aktuellen Bericht zur Rente mit 67 orientiert sich die Bundesarbeitsministerin hauptsächlich an Berechnungen des Statistischen Bundesamtes. Die Beamten aus Wiesbaden taxieren die Erwerbstätigenquote der Älteren zwischen 55 und 64 für das Jahr 2009 bei genau 55,9 Prozent. Sie ziehen ihre Daten aus dem Mikrozensus, ihrer alljährlichen großen Haushaltsumfrage.

Gedehnte Zahlen

Allerdings dehnen die Statistiker ihre Zahlen denkbar weit aus – was der Ministerin sehr entgegenkommt. Als erwerbstätig gilt, wer mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet. So sei es international üblich, heißt es in Wiesbaden. Auch alle Senioren, die sich bereits in der Ruhephase ihrer Altersteilzeit befinden, tauchen zwar nicht mehr am Arbeitsplatz auf, wohl aber in der amtlichen Statistik. Sie erhöhen die Zahl der Beschäftigten um eine halbe Million.

Strengere Maßstäbe legt die Bundesagentur für Arbeit (BA) an, die unter der Rechtsaufsicht von der Leyens steht. Die BA zählt nur versicherungspflichtig Beschäftigte. Minijobber erscheinen gar nicht erst in ihrem Zahlenwerk, die meisten Selbstständigen allerdings auch nicht. Erst im September hat die Behörde ihre Daten für das Jahresende 2009 ausgewertet. Demnach liegt die enger gefasste Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen bei 38,2 Prozent – also fast 18 Prozentpunkte unter dem Wert des Statistischen Bundesamtes.

Rente mit 67

Um die Verwirrung zu komplettieren, macht auch die Familienministerin mit eigenen Erhebungen Konkurrenz. Der „Deutsche Alterssurvey“, den Kristina Schröder unlängst vorstellte, beruht auf einer eigenen Befragung von mehr als 8000 Personen. Demnach ist der Anteil der 60- bis 64-Jährigen, die noch einen Job haben, in den vergangenen sechs Jahren von 20 auf 33 Prozent gestiegen. Auch dieser Wert liegt weit unterhalb der Angaben von der Leyens. Erst Ende Oktober hatte die Sozialministerin im Kabinett Daten der Eurostat-Statistiker präsentiert. Darin hieß es, die Quote der über 60-Jährigen habe sich von 2000 bis 2009 auf „knapp 40 Prozent nahezu verdoppelt“. Macht sieben Prozentpunkte mehr als in der Schröder-Statistik.

Frei Interpretierbar

Offiziellen Daten wollen die Gegner des Reformprojektes ohnehin nicht trauen. Gewerkschaften und Sozialverbände haben sich ein alternatives Zahlenwerk basteln lassen. In ihrem Auftrag hat das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie (Inifes) alle Minijobber, Niedriglöhner und Beamten aus den Regierungsstatistiken eliminiert. Und zählt auf diese Weise, dass nur 24,2 Prozent der über 60-Jährigen eine Beschäftigung hätten. „Statistik ist immer eine Frage der Interpretation“, sagt Inifes-Direktor Ernst Kistler.

Ohnehin warnen Ökonomen davor, ein Projekt wie die Rente mit 67, das erst im Jahr 2029 voll greift, allein von Daten des Jahres 2010 abhängig zu machen. „Eine Zeitpunktbetrachtung ist nie ein guter Maßstab“, sagt Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft. Entscheidender sei die Frage, wie sich die Beschäftigungsquote in den vergangenen Jahren verändert habe. Und im Zeitverlauf sei diese dramatisch angestiegen.

An dieser Stelle übrigens sind sich ausnahmsweise alle Statistiker einig. Auch die der Regierung und ihrer Behörden.

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