Den Brief an den „Sehr geehrten Herrn Bundesminister“ und „lieben Herrn Habeck“ zieren gleich vier Unterschriften. Siegfried Russwurm, Rainer Dulger, Peter Adrian und Josef Sanktjohanser haben sich zusammengetan. Wenn sich die Präsidenten von vier großen Wirtschaftsverbänden gemeinsam an den zuständigen Wirtschaftsminister wenden, muss die Lage ernst sein. Und für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Arbeitgeberverbände (BDA), den Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sowie den Handelsverband HDE ist sie es in der Tat.
Es geht um das Lieferkettengesetz, ein seit Jahren umstrittenes Vorhaben, das zum 1. Januar 2023 in Kraft treten soll. Aus Sicht der Verbände geht das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa), das sich um die konkrete Umsetzung kümmert, weiter als nötig. So drohe die „gestufte Verantwortung durch eine weitreichende Verantwortung für globale Lieferketten ersetzt“ zu werden, heißt es in dem Schreiben vom 15. September, das der WirtschaftsWoche vorliegt. Das bedeutet im Kern, dass die betroffenen Unternehmen für größere Teile ihrer Lieferkette Verantwortung tragen müssten als bisher gedacht – und bei Problemen oder Verstößen für diese haften.
„Gerade in der aktuellen dramatischen Lage von globalen Verwerfungen, einhergehend mit existenzgefährdenden Belastungen durch hohe Energiepreise und massiv gestörten Lieferketten, wird dieses Vorgehen kontraproduktive Auswirkungen für Unternehmen, insbesondere mittelständische Unternehmen, haben“, heißt es in dem Präsidentenbrief warnend. Daher sei es aus ihrer Sicht zwingend geboten, dass die gesetzlichen Anforderungen „realistisch und effektiv in die Unternehmensprozesse integriert“ werden könnten. „Es bedarf einer unbürokratischen Umsetzung, wie Sie, sehr geehrter Herr Bundesminister, es der Wirtschaft im direkten Gespräch bereits zugesagt haben.“
An genau dieser Umsetzung mit Augenmaß besteht nun offenbar großer Zweifel. Das Bafa verfolge eine „eine ausweitende und rechtlich zweifelhafte Gesetzesumsetzung und Auslegung“, die „neue Rechtsunsicherheiten und zusätzliche, kaum bewältigbare Herausforderungen für Unternehmen“ schaffe.
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Eine Antwort des lieben Herrn Habeck ist bisher nicht übermittelt. Der Brief liegt allerdings auch in den Postfächern von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Justizminister Marco Buschmann (FDP). Und gerade den Letzteren könnte der Lieferketten-Alarm noch dienen, um ein ganz frisches Versprechen der Ampel-Koalition zu aktivieren: das Belastungsmoratorium.
Es ist Teil des Beschlusses zur 200 Milliarden Euro schweren Gaspreisbremse. Am vergangenen Donnerstag kündigten die Koalitionsspitzen um Habeck, Lindner und Kanzler Olaf Scholz (SPD) schließlich auch an, künftig „sorgfältig darauf zu achten, dass während der Zeit der Krise keine unverhältnismäßigen zusätzlichen Bürokratielasten die Wirtschaft beeinträchtigen“.
Das Moratorium gilt als Konzession an die FDP. Parteichef Lindner unterstrich den Punkt beim gemeinsamen Auftritt dann auch explizit: Während der Krise müsse sich die Wirtschaft hinter dem Abwehrschirm darauf konzentrieren können, „sich vorzubereiten, sich wieder zu stärken, Substanz zu erhalten“. Die Regierung wolle „sie nicht mit lästiger, mit ärgerlicher Bürokratie in dieser Zeit behelligen“. Der Ärger um das Lieferkettengesetz könnte der erste Realitätstest dieses Versprechens werden.
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