Zu Beginn des deutschen Ärztetages am Dienstag in Freiburg hat sich Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery über einen jüngst veröffentlichten Vergleich der Gesundheitssysteme weltweit erbost. Deutschland landete dabei auf Platz 20 - hinter Griechenland! Diese Studie aus dem Wissenschaftsmagazin Lancet sei Mist, beschied Montgomery den versammelten Standesvertretern. Die werden in den nächsten Tagen darüber entscheiden, nach welchen Maßstäben Mediziner ihre Patienten behandeln und wie zum Beispiel die Digitalisierung endlich ins Gesundheitssystem eingebracht werden soll.
Die Aussage Montgomerys unter Applaus der Kollegen führt recht gut hin zu einer Erklärung, warum deutsche Arztpraxen und Patienten, Kliniken und andere Gesundheitsprofis noch kaum vernetzt sind. Deutschland hinkt anderen Ländern etwa in Skandinavien nämlich tatsächlich rund zehn Jahre hinterher. Warum Telemedizin noch eine große Ausnahme ist und Patienten eine digitale Gesundheitsakte eher fürchten als dadurch mehr Mitsprache und Beteiligung zu nutzen.
Fünf Gründe, warum Deutschland in Sachen Gesundheit digital rückständig ist:
Die größten Krankenkassen
Krankenkasse: AOK Niedersachsen
Versichertenzahl: 2,5 Millionen (Werte gerundet)
Quelle: Bundesministerium für Gesundheit; dfg-Dienst für Gesellschaftspolitik; eigene Recherche; Stand 1.1.2017
Krankenkasse: AOK Nordwest
Versichertenzahl: 2,8 Millionen
Krankenkasse: AOK Rheinland/Hamburg
Versichertenzahl: 3,0 Millionen
Krankenkasse: AOK Plus
Versichertenzahl: 3,1 Millionen
Krankenkasse: IKK Classic
Versichertenzahl: 3,3 Millionen
Krankenkasse: AOK Baden-Württemberg
Versichertenzahl: 4,2 Millionen
Krankenkasse: AOK Bayern
Versichertenzahl: 4,4 Millionen
Krankenkasse: DAK-Gesundheit
Versichertenzahl: 5,8 Millionen
Krankenkasse: Barmer
Versichertenzahl: 9,4 Millionen
Krankenkasse: Techniker
Versichertenzahl: 9,8 Millionen
1. Es läuft auch ohne Digitalisierung - bisher
Stimmt. Trotz aller Klagen: Deutschland setzt viel Geld für Gesundheit ein und erzielt dabei gute Ergebnisse. Deshalb ist der Druck gering, die Dinge einmal völlig neu zu denken. Digital nämlich.
In Estland war das System so schlecht, dass sich ein radikaler Umbau lohnte. Jetzt sind die Esten digital weit vorne und die Gesundheitsversorgung ist deutlich besser.
In Dänemark kalkulierten die Chefs des staatlichen Gesundheitssystems, dass die Versorgung der alternden Bevölkerung bald nicht mehr finanzierbar sei. Digital ist langfristig billiger. Digital bringt aber auch bessere Ergebnisse - ein wichtiges Argument gegenüber skeptischen Patienten.
In Deutschland trauen sich Gesundheitspolitiker nicht, derart mutig voran zu gehen.
2. Bremsen lohnt sich
Anders als Dänemark etwa hat Deutschland kein staatliches Gesundheitssystem. Versicherte zahlen in verschiedene private wie gesetzliche Versicherungen ein, die dann die Gesundheitsprofis bezahlen. Krankenkassen und Ärzte sollen unter Aufsicht der Regierung auch selbst aushandeln, wie die Versorgung organisiert wird. Ein solches Stände-System funktioniert gut in Zeiten des Wachstums - bei jeder Veränderung können die Betroffenen mehr Geld für den Umbau einfordern.
Ärztekammern, Kassenärzte-Vereinigungen und Krankenkassen profitieren davon, in Zeiten des Umbruchs zunächst nichts zu tun und dann Unterstützung zu fordern für das, was eigentlich ihre Aufgabe ist: Das Gesundheitswesen in Schuss zu halten und den Patienten sinnvolle neue Behandlungen zugänglich zu machen. Nähmen sie den Auftrag ernst, hätte ihre gemeinsame IT-Gesellschaft Gematik in zehn Jahren vielleicht eine nutzbare Neuerung hinbekommen.
Sichtbar wird auch eine Generationenkluft: An entscheidender Stelle bei den Standesvertretern haben Ältere das Sagen. Die Etablierten vermeiden es im Gegensatz zu vielen jungen Medizinern, neue Technologien auszuprobieren und voranzutreiben. Wie wenig die Ärztefunktionäre von der Vernetzung halten, zeigen sie mit ihrem aktuellen Positionspapier: "Digitalisierung geht nicht mehr weg", lautet die Überschrift.