AfD und der Rechtsruck Volksparteien kommt das Volk abhanden

Populisten graben etablierten Parteien das Wasser ab. Deutsche Politiker sollten aus den Verwerfungen in Österreich die richtigen Lehren ziehen. Gefragt ist kritische Selbstreflexion – und womöglich ein Kurswechsel.

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SPD-Außenminister Steinmeier, CDU-Chefin Merkel: Die Volksparteien wie verlieren an Zuspruch, während die AfD zulegt. Quelle: dpa

Berlin Es sind gruselige Zeiten für Volksparteien, denn ihnen kommt das Volk abhanden. Die Große Koalition in Deutschland vermag derzeit gerade einmal 50 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich zu scharen. In anderen europäischen Ländern sieht es nicht viel besser aus. Die Vereinfacher der linken und rechten Populisten graben den Konservativen und den Mitte-Links-Parteien zunehmend das Wasser ab.

Man sollte annehmen, dass die massenhafte Abwendung der Wählerinnen und Wähler von den etablierten Parteien dort zu einer kritischen Bestandaufnahme des eingeschlagenen Weges führt. Doch bislang sieht es nicht danach aus. Statt kritischer Selbstreflexion kommt es vielmehr zu altbekannten Reflexen.

Der Tenor scheint: Es darf sich nichts ändern, denn jede Abweichung vom eingeschlagenen Pfad würde die Verunsicherung der Bevölkerung nur vergrößern. In dieser Lesart bestraft „das Volk“ durch Stimmenabgabe nicht etwa eine als falsch wahrgenommene Politik, sondern jede Korrektur von Politik als „Glaubwürdigkeitsverlust“. Das mag für eine Minderheit zutreffen. Doch letztlich wird so jede Kursänderung zu einem Einknicken vor dem Populismus erklärt. Deshalb gilt: „Kurs halten“ – was immer auch kommt.

Schon die für Volksparteien desaströsen Landtagswahlen im März wurden in diese Richtung umgedeutet. „Nur keine Panik!“, hieß es angesichts der rechtspopulistischen Wahlerfolge. Flugs wurden sämtliche Nicht-AfD-Parteien in einer gefühlten „Koalition der Demokraten“ zusammengefasst.

Mit diesem Kunstgriff konnten selbst die schlimmsten Abstrafungen und die beispiellosesten Einbrüche in der Wählergunst letztlich noch als Aufforderung zum Kurshalten und als Sieg der guten Sache verbucht werden. Immerhin standen doch 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter der Kanzlerin! Schon im März grenzte dieses Argument an Realitätsverweigerung. Angesichts des aktuellen politischen Ausnahmezustandes in Österreich jedoch erfährt diese Art der selektiven Wahrnehmung des Wählerwillens nun einen neuerlichen Tiefpunkt des Wunschdenkens.

Bezogen auf den Sieg des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer in der ersten Runde der österreichischen Präsidentschaftswahlen und angesichts des Rücktritts des Bundeskanzlers und SPÖ-Vorsitzenden Werner Faymann wissen manche Beobachter nämlich schon wieder ganz genau, woran es gelegen hat. Nämlich am österreichischen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik. Beispiel Stephan Ozsvath in der ARD: „Zäune, Schließung der Balkanroute, verschärfte Asylregeln, Obergrenzen – all das hatte Faymann als Kanzler verantwortet und dafür zahlt er jetzt die Quittung“. Der „Kuschelkurs“ des Kanzlers gegenüber der FPÖ sei nichts weniger als ein „Sündenfall“, der nun politisch bezahlt werden müsse.

Selbst der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi erteilte aus Rom den wohlfeilen Ratschlag, die Politik dürfe eben „der Angst nicht nachgeben“.


Falsche Schlüsse aus dem Kanzlerrücktritt in Österreich

Das Problem an dieser Lesart: Sie ist nur überzeugend, wenn die Wirklichkeit weitgehend außer Acht gelassen wird. Zunächst: Es ist schon kurios, wenn der Niedergang einer Partei wie der SPÖ, die 19 von 20 zurückliegenden Wahlen verloren hat, mit einem Politikwechsel erklärt wird, der noch nicht mal ein halbes Jahr zurückliegt. Vollends abstrus wird diese Rechnung jedoch, wenn sie verlässliche Äußerungen der öffentlichen Meinung völlig unberücksichtigt lässt.

Tatsache ist: Die österreichischen Sozialdemokraten und die Konservativen wurden nicht für ihren vermeintlich halsbrecherischen Kurswechsel in Sachen Grenzschließung abgestraft, sondern für die Politik, die diesem Wechsel vorausging. Das jedenfalls belegen die Meinungsumfragen. Am 22. April verwies eine Umfrage der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft (SWS) darauf, dass 76 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher die von der Regierung beschlossenen „verstärkten Grenzsicherungen“ befürworteten. Lediglich 18 Prozent lehnten dieses Vorgehen ab.

Noch im Januar sah das ganz anders aus. Damals stimmte der Wiener Kurs bekanntlich weitgehend mit der Position der deutschen Bundesregierung überein. Umfragen aber belegen, dass lediglich 15 Prozent der Wähler hinter der österreichischen Bundesregierung standen. 83 Prozent der Befragten beurteilten das Krisenmanagement der schwarz-roten Regierung in der Flüchtlingsfrage hingegen negativ. Und nur 13 Prozent teilten damals die Position der SPÖ.

Einem österreichischen Bundeskanzler die Änderung eines Kurses zum Vorwurf zu machen, der lediglich von 13 Prozent der Öffentlichkeit unterstützt wird, ist moralisch jederzeit gerechtfertigt, politisch jedoch so gut wie nie. Sicher ist, dass die Richtungsänderung Faymanns innerhalb seiner eigenen Partei umstritten gewesen ist. Fakt ist jedoch auch, dass dies mehr über den Zustand seiner Partei aussagt und über das Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Abkoppelung als über die öffentliche Meinung selbst.
Man kann den Kurswechsel des Werner Faymanns in der Flüchtlingspolitik verurteilen. Ihn jedoch als Ursache für sein Scheitern darzustellen, verwechselt Ursache und Wirkung. Selbstbetrug ist keine hilfreiche Richtschnur im Umgang mit Rechtspopulismus – weder in Österreich noch in Berlin.

Dr. Michael Bröning (40) leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

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