
Es war eine Revolution. Bundeskanzler Gerhard Schröder reformierte im März 2003 mit seiner "Agenda 2010" nicht nur den Arbeitsmarkt. Der SPD-Mann widerrief auch Artikel 1 des ungeschriebenen Grundgesetzes, wonach es in Deutschland kein Wirtschaftswachstum ohne Sozialstaatsexpansion geben durfte. Erstmals bekannte sich ein Kanzler dazu, dass die Deutschen zur Erhaltung ihres Wohlstands „eine gewaltige Anstrengung” unternehmen müssten – und zwar nicht nur im Sinne von Erwerbsfleiß und Erfindungsreichtum, sondern auch in Gestalt massiver Einschnitte. Die „soziale Marktwirtschaft“, so viel war damals jedem klar, würde künftig anders buchstabiert.
Mentale Depression
Angela Merkel war es, die das allgemeine Aufbruchsempfinden damals auf den Begriff der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ brachte. Sie bezichtigte Schröder einen Zauderer, sprach davon, dass „sozial ist, was Arbeit schafft“, und dass „Wachstum!, Wachstum!, Wachstum!“ der Schlüssel zum Glück sei. Merkel sicherte den Deutschen einen „großen Wurf“ und „zweite Gründerjahre“ zu, einen „Befreiuungsschlag“, der das Land fit mache für den internationalen Wettbewerb. Und heute?
Heute stutzt Merkel den Staat nicht etwa zurecht, sondern baut ihn zum Fürsorgeinstitut für Kinder (Betreuungsgeld), Erwachsene (Mindestlohn) und Rentner (Lebensleistungsrente) aus. Ist das die „Neue Soziale Marktwirtschaft“? Oder leidet Angela Merkel an einer doppelten Wahrnehmungsschwäche: damals, vor zehn Jahren, als sie Reformdeutschland wie ein Ruinenfeld beschrieb – und heute, da sie Krisendeutschland mit Arkadien verwechselt? Merkel hat zu Reformen gedrängt, als sie stattfanden. Und sie dreht sie zurück, seit keine mehr anstehen. Wie konnte es dazu kommen?
Nun, Schröders Agenda war nicht mehr und nicht weniger als der realpolitische Höhepunkt einer achtjährigen Reformära, die mit der Ruck-Rede von Bundespräsident Roman Herzog am 26. April 1997 eindrucksvoll begann – und mit der Auflösung des Bundestags durch Herzogs Nachnachfolger Horst Köhler am 21. Juli 2005 beschämend endete. Herzog beschied den Deutschen lange vor Schröders Reformen, es sich in einer wohlfahrtsstaatlich ausgepolsterten Komfortzone bequem gemacht zu haben. Schonungslos diagnostizierte er ein „Gefühl der Lähmung“, eine „mentale Depression“ gar – aber nur, um den Deutschen die Augen zu öffnen für die Anstrengungsbereitschaft der Asiaten und die globale Konkurrenz; nur um die träge gewordenen Deutschen wieder zu mehr Risikobereitschaft, Gründergeist und Leistungslust zu ermuntern.