




Über 60 Jahre sind sie schon zusammen, nun leidet die Beziehung immer heftiger: Die Deutschen entfremden sich von ihrer Marktwirtschaft, ermittelte das Institut für Demoskopie Allensbach. Die freie Wirtschaft führe automatisch zu sozialer Ungerechtigkeit, dieser Aussage stimmen mittlerweile 46 Prozent der Deutschen zu (siehe Grafik). Dass die Marktwirtschaft soziale Gerechtigkeit erst ermögliche, glauben dagegen nur 38 Prozent. Bemerkenswert: Während die Ostdeutschen schon immer eher skeptisch waren, bewertet nun erstmals auch im Westen die Mehrheit der Befragten die Marktwirtschaft negativ.
Unterschiedlich ist die Sicht auf Ursache und Wirkung: Während die Wessis mit knapper Mehrheit die Freiheit als Voraussetzung für Wohlstand sehen, ist es bei den Ossis genau umgekehrt. Die Umfrageergebnisse fließen in den Freiheitsindex ein, den das Heidelberger John Stuart Mill Institut in dieser Woche präsentiert. „Klarer Favorit ist der ,betreuende‘ und ,kümmernde‘ Staat, der im Unterschied zum ,liberalen‘ Staat als gerechter, wohlhabender, menschlicher und lebenswürdiger angesehen wird“, resümiert Ulrike Ackermann, Direktorin des Instituts.
Die wachsende Ablehnung registriert auch der Freiburger Volkswirtschaftsprofessor Lars Feld, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Direktor des Walter Eucken-Instituts. „Insgesamt hat sich der Wind in Deutschland gedreht: Weg von der Idee der Marktwirtschaft und dem Leistungsdenken, hin zu mehr Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit.“ Die Politik habe bereits reagiert. „Überall lässt sich beobachten, dass der Staat seinen Einfluss ausdehnt und eine größere Rolle übernimmt. Er fängt wieder an, Unternehmen zu kaufen, wie Stromversorger, Wasserwerke oder EADS.“

Und der Trend könne sich noch verstärken, weil die Politik Umfragen ernst nehme. „Durch solche Ergebnisse haben es alle Reformen in Richtung auf mehr Marktwirtschaft künftig noch schwerer. Denn Politiker möchten ja wieder gewählt werden.“
Keine Debatten aufkommen lassen möchte dagegen Karl-Ludwig Kley, Chef des Darmstädter Pharmakonzerns Merck und Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). „Die soziale Marktwirtschaft ist das einzige Wirtschaftssystem, das Freiheit und Verantwortung überzeugend miteinander verbindet.“ Sie sei die Grundlage von Wohlstand und Demokratie in Deutschland. „Ich jedenfalls wünsche mir weder die Planwirtschaft der DDR noch den Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts zurück.“