




Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichte der Harvard-Professor Edward Glaeser ein Buch mit dem Titel „The Triumph of the City“. Von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ist die Geschichte überliefert, er sei ein großer Fan von Glaesers Thesen und empfehle das Buch bei jeder Gelegenheit wärmstens.
Es wäre passend für einen Politiker, der in einer prosperierenden, schönen und wachsenden Stadt lebt. Denn „Triumph of the City“ will nicht weniger als den wissenschaftlichen Beweis für die Überlegenheit des Urbanen führen: Städter sind besser ausgebildet, gesünder und sie leben länger.
Wunderbare Erfindung
Nach Glaeser ist die Stadt eine menschliche Erfindung ersten Ranges – ein Ort, an dem nicht nur der größte Wohlstand entsteht, sondern über unsere Lebenschancen entschieden wird. Die Metropole ist der Quell von Bildung und Kultur. Kurzum: des Glücks.
Heute präsentierte das Umfrage-Institut Allensbach neue Daten, die so ziemlich das genaue Gegenteil dokumentieren. Auf die Frage, wo die Menschen mehr von Leben haben, denken nur 21 Prozent an die Stadt, fast doppelt so viele – 40 Prozent – votieren für das Land.
Weil Allensbach diese Frage bereits seit Jahrzehnten stellt, lässt sich eine sehr bemerkenswerter Umkehr beobachten: 1956 empfanden noch 56 Prozent der Deutschen die Stadt als lebenswerter, aber nur 19 Prozent das Land. Ende der Siebzigerjahre waren beide Werte noch fast gleich auf, aber schon mit einem spürbaren Vorteil fürs Ländliche.
Was also gilt? Sind die Städte nun die „großartigste Innovation“ der Menschheit (Glaeser) oder doch eher ein Hort der Unzufriedenheit?
Eigentlich ist die Antwort einfach: beides. Die Umfrage widerspricht dem allgegenwärtigen Run in die deutschen (Groß-)Städte gar nicht. Im Gegenteil: Sie wirft ein Licht auf einen psychologischen Neben-Effekt – die stete Sehnsucht nach dem, was wir nicht haben. Landflucht und Sehnsucht nach dem Ländlichen sind zwei Teile eines Puzzles, die erst gemeinsam das ganze Bild offenbaren.
Dass es in deutschen Städten wie Berlin, München, Hamburg, aber eben auch in Leipzig, Regensburg oder Freiburg immer voller und teurer wird, hat mehrere wohldokumentierte Gründe: eine historisch hohe Zuwanderung aus dem Ausland drängt nicht in die Dörfer, sondern dorthin, wo die Jobs sind.
Ohne Häuschen im Speckgürtel
Immer mehr junge Menschen studieren und drängen an Universitäten und Fachhochschulen, die sich nicht auf dem platten Land befinden. Außerdem tauschen auch aktive Rentner mittlerweile gerne ihre Häuschen im Speckgürtel gegen das zentrale Apartment, um näher dran zu sein an der Oper, den Theatern und den Enkeln. Deren Eltern beide arbeiten – natürlich in der Stadt.
Daraus resultieren Folgen, die längst politisch und gesellschaftlich debattiert werden, weil viele sie als Problem empfinden: Kann etwas gegen steigende Mieten getan werden? Kann man Gentrifizierung bekämpfen oder wenigstens steuern? Wir organisieren wir in der Stadt besseren Nahverkehr und Kinderbetreuung? Kann man ärztliche Versorgung, Kulturangebote und den Kiosk auf dem Land noch halten – und wenn ja, wie lange?
Die Allensbach-Umfrage dokumentiert vor allem den Stress der Städter mit ihrem Alltag: Lärm, hohe Lebenskosten, Vereinsamung, Shopping, all das verbinden die Deutschen mit der Stadt. Zufriedenheit, Nachbarschaft und gute Luft hingegen sind die Attribute des Dorfs.
Worum es hier also geht, ist der Kontrast von urbaner Gegenwart und Sehnsüchten nach dem Anderen. Ja, die Stadt ist trubelig, stressig, chaotisch, ein Ort des lärmenden Fortschritts, und deshalb immer Schauplatz der Aufregung, Anregung und Erregung. Dieses Motiv ist im Übrigen mindestens hundert Jahre alt, man lese nur mal Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Das Land hingegen – die warme Utopie, ein Tagtraum, wie Urlaub, herrliche Projektionsfläche für dieses Gefühl des „Man sollte einfach etwas ganz anderes machen“.
Was man dann doch nie tut. Sondern an dem Kiosk an der Ecke, den es da draußen nicht mehr gibt, ein Heft von „Landlust“ kauft.