Alterssicherung Der Fluch des langen Lebens

Da Menschen immer älter werden, sollen sie länger arbeiten und so die Rentenkassen im Lot halten. Laut einer Studie würde diese Idee aber eine „Polarisierung im Alter“ verschärfen. Alt ist eben nicht gleich alt.

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Die Lebenserwartung steigt. Das wird zum Problem für die Rentenversicherung. Quelle: dpa

Berlin Das Glück des langen Lebens ist ein Problem für die Rentenkasse. Allein in den vergangenen 25 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung für Neugeborene in Deutschland um etwa fünf auf knapp über 80 Jahre gestiegen. Wer länger lebt, erhält auch länger Rentenzahlungen. Das belastet das Sozialsystem.

Das Problem könnte eine neue „Wunderformel“ lösen, wie sie von der Europäischen Kommission und auch der Organisation wichtiger Industriestaaten (OECD) favorisiert wird. Demnach soll künftig das gesetzliche Rentenalter in dem Maße erhöht werden, in dem die Lebenserwartung steigt. Eine Erhöhung auf 67 Jahre ist für das Renteneintrittsalter in Deutschland bereits beschlossen; ein Eintritt ab 63 Jahren ist im Gegenzug für Abschläge bei der Rente möglich. Würde sich die Lebenserwartung in den kommenden 25 Jahren um weitere fünf Jahre erhöhen, würde eine solche Wunderformel vereinfacht gesagt ein reguläres Renteneintrittsalter von 72 Jahren vorsehen.

Willkommener Nebeneffekt einer solchen Verknüpfung des Rentenalters mit der Entwicklung der Lebenserwartung wäre, dass mit jedem Jahr, dass die Versicherten länger im Job bleiben und Sozialabgaben zahlen, auch ihre Rentenansprüche steigen würden. Das könnte, so Axel Börsch-Supan, Direktor des Münchner Instituts für die Ökonomie des Alters, ein Ausgleich dafür sein, dass das Rentenniveau auch in Zukunft sinken soll. Im Idealfall würde eine klassische Win-win-Situation für alle Beteiligten erreicht, so Bösch-Supan. Die Rentenversicherung würde finanziell entlastet – und mit ihr die Beitragszahler. Diese würden im Rentenalter über höhere Renten profitieren.

Eine Studie der Universität Duisburg zeigt jedoch, dass die erhofften Effekte zum Teil gar nicht eintreten. Denn die Untersuchung, die dem Handelsblatt vorliegt, belegt, dass die meisten Menschen schon das Rentenalter 65 nicht als Erwerbstätige und schon gar nicht im angestammten gut bezahlten Vollzeitjob erreichen. Damit komme es zwar zu den erwarteten Spareffekten für die Rentenversicherung. Ihr aber stünden negative Effekte für Arbeitnehmer und Rentner gegenüber, die generell sozialpolitisch nicht vertretbar seien. „Erschwerend kommt hinzu“, so Gerhard Bäcker von der Uni Duisburg, „dass vor allem gut qualifizierte Beschäftigte mit guten Einkommen Chancen haben, bis zum Schluss im Job zu bleiben.“ Sie würden mit einer höheren Rente belohnt. „Beschäftigte im unteren Qualifikationsbereich seien dagegen wegen ihres „Gesundheitszustandes und belastenden Arbeitsbedingungen“ dazu häufig nicht in der Lage. „Im Ergebnis kann es zu einer weiteren sozialen Polarisierung des Alters kommen.“ Heute schon bei der Altersversorgung benachteiligte Personengruppen würden im Alter zusätzlich abgehängt.

Dabei bestreiten die Autoren der Studie nicht, dass es in den vergangenen Jahren Fortschritte bei der Erwerbsbeteiligung Älterer gegeben hat: Die sogenannte Erwerbstätigenquote von Männern zwischen 60 und 64 Jahren liegt der Untersuchung zufolge nach einem deutlichen Anstieg in den vergangenen Jahren bei 60 Prozent, bei Frauen immerhin bei 48 Prozent. Doch fällt auf, dass mit 63 Jahren nur noch 44 Prozent der Männer und 34 Prozent der Frauen erwerbstätig sind. Bei den 64-Jährigen sind es sogar nur noch 36 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen. Der Grund dürfte sei, dass viele trotz der hohen Frührentenabschläge immer noch den frühestmöglichen Rentenbeginn mit 63 nutzten. Viele sind auch dann schon nicht mehr im alten Vollzeitjob und zahlen gar keine  Beiträge mehr in die Rentenversicherung ein oder deutlich kleinere Sozialversicherungspflichtig beschäftigt  sind nämlich im Alter 64 nur noch weit unter 20 Prozent. Von diesen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben in den Altersgruppen 63 bis über 65 immer mehr nur einen Minijob: Die Quote steigt von einem Drittel bei den 63-Jährigen auf über 60 Prozent in der Generation 65 Plus. Oft geht es dabei nur um einen Zusatzverdienst zur zum frühestmöglichen Zeitpunkt bezogenen gesetzlichen Rente.


Warum Hochqualifizierte doppelt profitieren würden

Die geringsten Chancen bis zur Altersgrenze im Job durchzuhalten, haben dabei in der Tat Menschen mit einer niedrigen Qualifikation. Sie stellen den größeren Teil der Rentenversicherten da, die vor Rentenbeginn nicht mehr gearbeitet haben, so die Analyse. Nur 40 Prozent der neu bewilligten Altersrenten schlossen 2015 lückenlos an eine versicherungspflichtige Beschäftigung an. 60 Prozent der Neurentner waren entweder zuvor arbeitslos gemeldet oder etwa als Hausfrauen oder Selbstständige registriert. Zwar sind die Arbeitslosenquoten bei Älteren zuletzt gesunken – allerdings deutlich langsamer als bei jüngeren Arbeitnehmern.

Vor allem würden durch eine weitere Erhöhung des Rentenalters „jene älteren Beschäftigten schlechter gestellt, die nach oft langer Arbeitslosigkeit im rentennahen Alter vergeblich nach einer Neuanstellung suchen“, schreiben der Soziologie-Professor Gerd Bäcker, Andreas Jansen und Jutta Schmitz. Wer es in einem Job bis zum Rentenalter schaffe, habe dagegen  in der Regel ein höheres Einkommen und verfüge in der Rentenversicherung wie in der betrieblichen und privaten Altersvorsorge über eine bessere Absicherung. Er könnte also Abschläge wegen Frühverrentung besser verkraften.

Von Abschlägen betroffen sind aber ausgerechnet die, denen eine Weiterarbeit bis zum Alter von 67 Jahren oder in Zukunft sogar 70 oder 72  Jahren kaum möglich ist und die ohnehin wegen niedriger Qualifikation und entsprechend schlechter Jobs nur über niedrige Rentenansprüche verfügen und oft keinerlei Anspruch auf eine ergänzende Versorgung wie die Riester-Rente haben. Es komme also in der Tat zu einer weiteren Polarisierung zwischen armen und reichen Arbeitnehmern im Alter.

Ein weiteres Argument kommt hinzu: Genauso wie die Chance bis zum Rentenalter durchzuhalten mit abnehmendem Qualifikations- und Gehaltsniveau sinkt, genauso verhält es sich auch mit der Lebenserwartung: Sie korreliert stark mit dem sozialen Status. Gut verdienende Männer im Alter von 65 haben eine um 5,3 Jahre höhere Lebenserwartung als männliche Niedrigverdiener. Bei den Frauen beträgt der Abstand 3,5 Jahre. Außerdem lässt sich belegen, dass die Lebenserwartung in den höheren Einkommensklassen in der Vergangenheit schneller gestiegen ist als bei Niedrigverdienern.

Solange sich an diesen Zusammenhängen nichts geändert hat, halten die Autoren der Studie daher eine Kopplung des Rentenalters an die durchschnittliche Lebenserwartung für sozialpolitisch nicht vertretbar.

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