Analyse zum Leistungsbilanzüberschuss Deutschland – der übermächtige Konkurrent

Deutschland hat 2017 so viel Auslandsvermögen aufgebaut wie kein anderes Land. Doch die Gewinne Deutschlands sind die Schulden der anderen. Ob die je zurückgezahlt werden, ist fraglich.

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Mit umgerechnet 287 Milliarden Dollar ist der deutsche Leistungsbilanzüberschuss mehr als doppelt so groß ausgefallen wie der des Exportweltmeisters China mit 135 Milliarden Dollar. Quelle: dpa

Frankfurt Deutschland hat im Jahr 2017 erneut den weltweit größten Leistungsbilanzüberschuss eingefahren, hat das Ifo-Institut bekannt gegeben. Der Leistungsbilanzüberschuss misst die Zusammenfassung und Gegenüberstellung aller Waren und Dienstleistungen, die Deutschland ins Ausland exportiert beziehungsweise importiert. Dazu gerechnet werden auch Kapitalerträge und wie viel mehr Netto Deutschland anderen Ländern gegeben hat, als es von dort bekommen hat. Oder anders formuliert: Der Leistungsbilanzüberschuss misst, um wie viel sich das Ausland bei Deutschland verschuldet hat. Man nennt das im Ökonomenjargon auch Kapitalexport. Deutschland produziert und exportiert Waren und bekommt dafür im Gegenzug Forderungen.

Im vergangenen Jahr waren es nach Ifo-Berechnungen umgerechnet 278 Milliarden Dollar an neuen Forderungen, die Deutschland so aufgebaut hat. Nach heutigem Euro-Kurs sind das rund 230 Milliarden Euro. Das waren knapp acht Prozent der Jahreswirtschaftsleistung, um die Deutschland unter seinen Verhältnissen gelebt und investiert hat.

In den letzten Jahren war der Kapitalexport ähnlich hoch, im nächsten Jahr wird er es – den Ifo-Prognosen zufolge – wieder sein. Auf diese Weise erhöht sich das deutsche Auslandsvermögen alle vier Jahre um fast eine Billion Euro. In Anbetracht der demografischen Entwicklung in Deutschland mit künftig immer mehr Rentnern, die von einer schrumpfenden erwerbstätigen Bevölkerung finanziert werden müssen, ist das an sich eine prima Sache. Was künftig nicht genug an Wohlstand produziert werden kann, wird zur Versorgung der Rentner aufgestockt, indem das Auslandsvermögen abgeschmolzen wird.

Aber nach EU-Vereinbarungen gilt ein Leistungsbilanzüberschuss von mehr als sechs Prozent als störendes Ungleichgewicht. Und selbst diese Grenze wurde allein auf deutschen Druck so hoch angesetzt. Warum findet die EU – so wie die meisten ausländischen Ökonomen und Politiker –, ein hoher Leistungsbilanzüberschuss sei ein Problem?

Da ist zum einen die Tatsache, dass der Überschuss Deutschlands notwendigerweise ein Defizit der anderen bedingt. Fast alle Handelspartner haben mit dem gleichen demografischen Problem zu kämpfen wie Deutschland, bauen aber statt eines Vermögensstocks im Ausland Schulden gegenüber Deutschland auf. Diese Schulden soll später eine schrumpfende aktive Bevölkerung zurückzahlen, die gleichzeitig immer mehr heimische Rentner zu versorgen hat. Wenn die Schuldner den Schuldendienst irgendwann nicht mehr leisten können oder wollen, bringt das Probleme nicht nur für diese Länder, sondern auch für den Gläubiger Deutschland und für die internationale Verständigung. Man muss sich nur vor Augen führen, welchen Unfrieden die griechische Schuldenkrise in Europa und sogar im transatlantischen Verhältnis gestiftet hat.

Ob das Auslandsvermögen also tatsächlich in ferner Zukunft mit dem Wert zur Verfügung steht, der heute in den Büchern steht, ist mehr als fraglich – es ist sogar sehr unwahrscheinlich. Denn wenn den Schuldnern die Last zu schwer wird, passiert regelmäßig zweierlei: Entweder ihre Währung wertet ab, was Deutschlands Forderungen mit entwertet. Oder aber die Unternehmen oder der Staat der Abnehmerländer gehen Bankrott und zahlen nicht mehr. Schon in der Vergangenheit ist das deutsche Auslandsvermögen aus solchen Gründen regelmäßig erheblich weniger schnell gestiegen, als es dem jährlichen Kapitalexport entsprochen hätte. Ein beträchtlicher Teil unseres Exportüberschusses wird also auf lange Sicht gesehen verschenkt.

Die Entwicklung des berüchtigten Target-Saldos der Bundesbank zeigt sehr schön, wie fragwürdig die Qualität der Forderungen ist, die Deutschland aufbaut, und welche Zeitbombe für die europäische Währungsunion und den Frieden in Europa darin schlummert. Der deutsche Target-Saldo ist 2017 um 152 Milliarden Euro auf den Rekordstand von 906 Milliarden Euro gestiegen. Rund zwei Drittel des deutschen Forderungsaufbaus entfielen also 2017 auf zusätzliche Target-Forderungen. Sie entstehen, wenn die Bundesbank indirekt über die Europäische Zentralbank anderen Notenbanken des Euroraums den Kredit gibt, mit dem diese Waren- oder Wertpapierkäufe in Deutschland finanzieren. Im Vorjahr hatte der Aufbau der Target-Forderung sogar 200 Milliarden Euro betragen.

Wenn die Währungsunion irgendwann einmal in naher oder ferner Zukunft auseinanderbrechen sollte, ist höchst ungewiss, ob die Target-Schuldner dann noch bereit und in der Lage sein werden, ihre Verbindlichkeiten in Euro zu begleichen. Je länger Deutschland einen derart riesigen Leistungsbilanzüberschuss aufrechterhält, desto wahrscheinlicher ist es, dass die schwächeren Länder Europas mit der übermächtigen deutschen Konkurrenz irgendwann nicht mehr mithalten können und die Waffen strecken.

Ein wahrscheinlicher Weg hin zu diesem Ergebnis ist eine kräftige Aufwertung des Euros. Diese ist wahrscheinlich, weil der deutsche Überschuss so groß ist, dass er dem Euro-Raum insgesamt einen großen und wachsenden Leistungsbilanzüberschuss beschert. Früher oder später werden solche Überschüsse durch Währungsaufwertung, die die heimischen Waren teurer macht, abgebaut. Wenn das passiert, wird es sehr eng für die wettbewerbsschwachen Länder an der europäischen Peripherie. Dann wäre auch das goldene Zeitalter für die deutsche Industrie vorbei.

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