Anders gesagt
Mehrere hundert Einwohner aus Gemeinden Mecklenburg-Vorpommerns protestieren gegen den weiteren Ausbau der Windkraft. Quelle: dpa

Flächenfraß wird zum Konfliktstoff

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Der Verbrauch von Naturflächen bringt immer mehr Bürger auf die Barrikaden. Dabei ist ihnen meist nicht klar, dass die beiden Lieblingsprojekte der Politik den Flächenverbrauch forcieren.

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Nach den Erfahrungen mit „Stuttgart 21“, den jahrelang andauernden Protesten gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, sollte es eigentlich niemanden wundern. In Deutschland haben sich zahlreiche Bürgerinitiativen etabliert, die wütend verhindern wollen, dass in ihrem Lebensumfeld gebaut wird.

Kürzlich erfuhr Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer den Furor dieser Bewegung bei seinem Besuch im oberbayrischen Rosenheim, wo der Ausbau einer Bahntrasse durch das Inntal etwa hundert Menschen mit Trillerpfeiffen gegen ihn aufbrachte: „Stoppt den Flächenfrass“ und „Schützt die Heimat unserer Kinder“ stand auf Plakaten. Überall, wo große Bauprojekte anstehen, formiert sich ein wachsender Widerstand – gegen Straßen, Bahntrassen, Windräder. In vielen Stadtrandlagen und Dörfern protestieren Anlieger auch gegen die Freigabe neuer Flächen für den Wohnungsbau. Diese Wut nicht ernst zu nehmen oder für einen Spleen verbohrter Fortschrittsfeinde zu halten, ist unangebracht. Man kann Menschen nicht ausreden, dass sie den Verlust von Natur und Kulturlandschaft als zunehmend schmerzhaft erleben.

Einen Eindruck der historisch einzigartigen Dimension des Flächenfraßes erhält man in dem Bildband „Baden-Württemberg – Landschaft im Wandel“, herausgegeben vom Landesmedienzentrum Baden-Württemberg im Jahr 2009. Der Vergleich alter Luftbilder aus den 1950er Jahren mit aktuellen Bildern ist erschreckend. Und der Verlust an Natur und Kulturlandschaften hat sich in den vergangenen zehn Jahren nur leicht verlangsamt.

Jeder Bewohner des Umlands von Stuttgart, der Rhein-Main-Region, Nordrhein-Westfalens, und anderer urbaner Regionen erlebt derzeit, dass überall um ihn herum wie verrückt gebaut wird. In Düsseldorf sind ganze Viertel neu entstanden (in einem davon liegt auch das neue Büro-Gebäude von Handelsblatt und WirtschaftsWoche). All die Menschen, die nach Deutschland ziehen, wollen schließlich wohnen, arbeiten, fahren, Strom verbrauchen.

Und so steht nun in Düsseldorf-Lörick, wo vor kurzem noch ein Gemüsefeld war, ein Flüchtlingsheim; die Autobahnen, die dem niederrheinischen Tiefland schon jeglichen Charme geraubt haben, werden weiter verbreitert (glaubt irgendjemand wirklich, dass es danach keine Staus mehr geben wird?) und mitten durch den ehemals dörflichen Siedlungsbrei des Vorortes Meerbusch wird nun auch noch eine zusätzliche Hochspannungsleitung gebaut, die norddeutschen Windstrom in südwestdeutsche Fabriken bringen soll, während ununterbrochen Flugzeuge zum Landeanflug darüber hinwegbrausen.

Davon kann man durchaus genug haben.

In offiziellen Statistiken heißt dieser Prozess der Umwandlung von Natur- und Kulturlandschaften in Siedlungs- und Verkehrsflächen „Flächenverbrauch“. Das klingt so, also ob Fläche ein Konsumgut wäre, das man eben regelmäßig konsumieren könne. 2017 waren es 58 Hektar pro Tag, das ist eine Fläche von mehr als 81 Fußballfeldern – am Tag! In den 1990er Jahren war es zwar noch doppelt so viel.

Aber das ist ein schwacher Trost. Fläche ist schließlich kein Konsumgut, sondern der Innbegriff des Begrenzten: Deutschland umfasst nun einmal nur 35.758.168 Hektar Gesamtfläche. Und der Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche daran steigt jeden Tag. 1992 waren es erst 4.030.500 Hektar, Ende 2017 waren es schon 5.103.200 Hektar. Etwa 25 Prozent Zuwachs in nicht einmal drei Jahrzehnten! Und wenn schon in Jahren stagnierender oder sogar rückläufiger Gesamtbevölkerung die Siedlungs- und Verkehrsfläche weiter zunahm, so ist dies bei durch Zuwanderung steigender Bevölkerung erst recht zu erwarten.

Erschreckenderweise ist der Landschaftsfraß aber auch in ländlichen und ökonomisch schwachen Regionen nicht völlig aufgehalten. Wer vor einigen Jahren zum letzten Mal über die B10 von Landau in der Pfalz nach Saarbrücken gefahren ist, wird erschrocken sein, wie mittlerweile der Straßenausbau und die Ausbreitung von Wohn- und Gewerbegebieten die Täler des Pfälzerwalds zerfressen haben. Dabei ist der Pfälzerwald als Unesco-Biosphärenreservat noch ein Schongebiet, dem bis auf weiteres einer der hungrigsten Flächenfresser erspart bleibt: die Windkraft.

Wieviel Fläche Windräder beanspruchen, ist nicht so leicht zu sagen. Soll man nur die tatsächlich durch das Betonfundament versiegelte Fläche betrachten? Das sind nur zwischen 0,2 und 0,4 Hektar pro Anlage, also etwa ein halbes Fußballfeld. Aber macht es nicht einen Unterschied, dass die Rotoren kilometerweit zu sehen sind? Eine Landschaft jedenfalls ist nicht mehr dieselbe, wenn sie von Windrädern geprägt ist. Die Gegner von „Windparks“ (der Begriff „Park“ ist einer der meistmissbrauchten in der PR-Sprache) tröstet es meist nicht, dass zwischen den Windrädern weiter Getreide angebaut werden kann. Sie müssen die riesigen Dinger tagein tagaus sehen. Die Idylle des Landlebens ist für sie endgültig perdü.

Und der Konflikt um die Windräder dürfte noch deutlich an Dramatik gewinnen, wenn künftig auch Verkehr und Wärme dekarbonisiert, also größtenteils elektrifiziert werden sollen, und man sich nach Willen der Regierenden ganz auf Wind und Photovoltaik verlassen soll. Eine Studie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften für einen im November 2017 veröffentlichten Bericht beziffert den Ausbaubedarf auf das Siebenfache des Standes von 2017. Richtig gelesen: das Siebenfache.

Wer deutsche Landschaften der Gegenwart schon ziemlich verschandelt findet, kann sich also ausmalen, was das bedeutet: Kaum ein Flecken Deutschlands bliebe verschont – selbst wenn man von einer Verdopplung der Kapazität der einzelnen Windräder ausgeht.

Wie unter den aktuellen Umständen – ungebremste Zuwanderung und radikale Dekarbonisierung und Denuklearisierung der Energiewirtschaft – die offiziellen Ziele zur Reduzierung des Flächenverbrauchs erreicht werden sollen, ist völlig schleierhaft. Die Neuauflage der Nachhaltigkeitsstrategie aus dem Jahr 2016 verlangt einen Landschaftsverbrauch von „unter 30 Hektar“ pro Tag bis 2030. Das integrierte Umweltprogramm 2030 des Bundesumweltministeriums von 2016 nennt ein Ziel von 20 ha pro Tag. Und laut Klimaschutzplan 2050 vom November 2016, der den Weg zu einem treibhausgasneutralen Deutschland beschreibt, will die Bundesregierung einen Flächenverbrauch von Netto-Null („Flächenkreislaufwirtschaft“) bis 2050, entsprechend einer Zielsetzung der Europäischen Kommission.

Was sich im Flächenfraß und den Protesten dagegen offenbart, ist nicht nur eine ökologische Grenzsituation, sondern auch eine gesellschaftliche Zerreißprobe für dieses Land. Natürlich ist der Flächenfraß eine Folge des Wirtschaftswachstums und damit einhergehend der wachsenden Ansprüche nach mehr Wohnraum, Mobilität und Konsum. Aber dieser Treiber, der in einer alternden, schrumpfenden Gesellschaft bald schwächer würde, wird nun potenziert durch die beiden großen, moralisch fundierten Transformationsprozesse Deutschlands, die ihre unangenehmen Nebenwirkungen offenbaren.

Sowohl die Einwanderung als auch die Energiewende verlangen ihren Tribut in Form von Raum. Die Folge: Es wird enger. Auf den Immobilienmärkten, in den verstopften Straßen, zwischen Windrädern und Wohngebieten. Und wo es enger wird, steigt der Druck. Und wenn der zu hoch wird, entsteht Explosionsgefahr.

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