Anders gesagt
Demonstration von Fridays for Future in Aachen am 21. Juni 2019 Quelle: dpa

Politischer Moralismus führt in die Unmoral

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

35 Jahre alt und aktueller als je zuvor. Hermann Lübbe hat seine Streitschrift „Politischer Moralismus“ neu aufgelegt. Man muss sie unbedingt lesen.

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Es dürfte nur wenige politisch-philosophische Aufsätze geben, die 35 Jahre nach ihrer Entstehung aktueller sind als damals. Der Philosoph Hermann Lübbe, geboren 1926, hat gerade einen Text, der 1984 entstand, erneut aufgelegt. Er heißt „Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft.“

Dieser sollte unbedingt wieder gelesen werden. Erstens – jenseits aktueller Umstände – zur Schärfung des historischen Bewusstseins für die Rolle des guten Gewissens als Voraussetzung ideologisch fundierter Gewaltsysteme. Und zweitens – ganz aktuell – zur Schärfung der Aufmerksamkeit für die seit 1984 noch deutlich gewachsene Neigung, „auf die Herausforderung von Gegenwartsproblemen moralisierend zu reagieren“. Ein Phänomen, das, so Lübbe, „industriegesellschaftsspezifisch“ sei.

Zunächst korrigiert Lübbe ein von Max Horkheimer manifestiertes Vorurteil: Dass nämlich der Mitläufer-Karrierismus von Gewaltverbrechern in totalitären Systemen durch deren moralische Gleichgültigkeit zu erklären sei. Lübbe zeigt unter anderem anhand der erschreckenden Posener Rede Heinrich Himmlers und der Figur des SS-Mannes Dr. Dorff aus der TV-Serie „Holocaust“, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Die eigene moralische Identität wird von den meisten Mittätern dadurch bewahrt oder wiederhergestellt, dass man den eigenen Glaubenseifer intensiviert – „komplementär zu der zunehmenden Rücksichtslosigkeit, mit der sich das totalitäre Regime über die Regeln gemeiner Moral hinwegzusetzen beginnt“ – und einsetzende moralische Selbstzweifel bannt durch „Ideologisierung des Bewusstseins“.

Die großen totalitären Massenmord-Regime des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus – waren eben nicht durch einen Mangel moralischer Argumentation gekennzeichnet. Sondern die dahinterstehenden „Großideologien“ brachten es durch „moralisierende Selbstrechtfertigung“ zustande, „auch noch die ärgsten Verstöße gegen elementare Regeln traditionaler Moral ihrerseits als moralisch gerechtfertigt darzutun.“ Himmler sprach 1943 vor seinen Schergen von dem „moralischen Recht“, die Juden zu töten, da diese angeblich „uns umbringen“ wollten. Und in der Zeitschrift der Tschekisten stand 1919: „Uns ist alles erlaubt.“ Schließlich töte man zur Befreiung der Menschheit.

Ähnlich guten Gewissens wurden übrigens schon drei oder vier Jahrhunderte zuvor in fast allen Ländern Europas vermeintliche Hexen auf öffentlichen Scheiterhaufen verbrannt – in der Überzeugung der Täter, den Satan, also das absolut Böse, zu vernichten. Erst nach Jahrzehnten unaussprechlicher Gewalt und zehntausenden Hinrichtungen, wurde den Nachgeborenen klar, dass diejenigen, die das Böse gejagt hatten, nichts anderes zur Strecke gebracht hatten als das Gute in sich selbst. Die Geschichte bietet eine unerhörte Lehre, die Karl Popper in seinem vielmissdeuteten Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ so formulierte: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“

Heute dreht sich die Moral-Debatte um Immobilienpreise und Mieten

Die von Lübbe 1984 festgestellte zunehmende „Neigung…, auf die Herausforderung von Gegenwartsproblemen moralisierend zu reagieren“ sollte also durchaus nicht als beruhigend verstanden werden. Es ist vielmehr, wie Lübbe schreibt, ein „Krisensymptom“. Man folgt eben einem zunächst bequemen, aber höchst gefährlichen Weg, indem schwer zu beantwortende, politisch streitbare Sachfragen in moralische verwandelt werden: Die Probleme, so die Deutung der Moralisten, bestehen, weil mehr oder weniger böswillige Menschen sie bewusst erzeugen oder zumindest in Kauf nehmen, um ihre eigennützigen, allgemeinschädlichen, also unmoralischen Ziele zu verfolgen.

Beobachten kann man diese Moralisierung etwa in der Debatte über die steigenden Immobilienpreise und Wohnungsmieten. Immobiliengesellschaften und generell Vermieter werden auf Demonstrationen zu gierigen Spekulanten erklärt. Durch Mietpreisbremsen oder gar Enteignung glaubt eine rot-rot-grüne Politik ihnen das schmutzige Handwerk legen zu müssen. Dass Immobilienpreise, wie jeder Marktpreis, nicht nur von Anbietern, sondern auch von Nachfragern und den politisch-gesellschaftlichen Umständen gemacht werden, nimmt man allenfalls beiläufig noch wahr. Schließlich eignen sich Massenzuwanderung und die Niedrigzinspolitik der EZB nicht als Feindbild links-grüner Emotionalisierung.

Ähnliches galt schon 1984 und gilt heute noch verstärkt für ökologische Fragen. Die Klimaschutzbewegung der Gegenwart ist geprägt durch das anklagende „ihr“, das die Plakate bei Fridays for Future-Demonstrationen prägt, und durch den von Empörung getragenen Sound von Greta Thunbergs öffentlichen Auftritten: Ihr Bösen, ihr riskiert für euren Profit und aus Feigheit unsere Zukunft.

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