
Berlin Andrea Nahles bleibt sitzen, versucht, sich ein Lächeln abzuringen, aber es gelingt ihr nicht. Sie sieht einfach nur schockiert aus. Zwar ist die 47-Jährige wie erwartet soeben auf dem Bundesparteitag zur neuen SPD-Vorsitzenden gewählt worden, als erste Frau in der 155-jährigen Geschichte der Partei.
Es ist ein historischer Moment für die deutsche Sozialdemokratie, Nahles hat Geschichte geschrieben. Und doch ist die Stunde ihres größten Triumphs eine Niederlage. Gerade einmal 66,35 Prozent der Stimmen hat Nahles erhalten. Das ist deutlich weniger, als die Parteiführung erwartet hatte.
Ihre Gegenkandidatin für die Wahl zum Parteivorsitz, die völlig unbekannte Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange, gelingt dagegen ein Achtungserfolg. Sie holt 27 Prozent der Delegiertenstimmen.
Nicht nur Nahles wirkt geschockt, viele Genossen im neuen Wiesbadener Kongresszentrum sind es.
Der Applaus bei Bekanntgabe der Stimmauszählung ist spärlich, im Parteipräsidium herrscht Fassungslosigkeit. Man wusste, dass Nahles kein Bombenergebnis bekommen wird. Aber mit über 70 Prozent rechneten die meisten Genossen. Nun verfehlte Nahles diese Marke deutlich und erhielt sogar fast zehn Prozentpunkte weniger als Sigmar Gabriel 2015 – der daraufhin kurz überlegt hatte, hinzuschmeißen.
Nahles nahm die Wahl zwar an, aber ihr Start ist völlig verpatzt. Führende Genossen bemühen sich, das schlechte Abschneiden zu relativieren. Seit über 20 Jahren habe es auf keinem SPD-Parteitag mehr einen Gegenkandidaten bei der Wahl des Vorsitzenden gegeben. Naturgemäß sei kein glanzvolles Ergebnis zu erwarten, wenn ein anderer Kandidat noch eigenes Stimmenpotenzial mobilisiere.
Ein Spitzengenosse beschwichtigt, er habe das Ergebnis erwartet. „Die Partei ist in Aufruhr. Die Aufregung um die Große Koalition hat sich nicht gelegt“, sagt er. Das Ergebnis sei ähnlich wie die Abstimmung über den Koalitionsvertrag.
Die Hoffnung, dass vom Bundesparteitag ein Aufbruchssignal ausgehen könne, erfüllte sich am Sonntag nicht. In Wiesbaden wollte die SPD ihre monatelangen internen Kämpfe endlich hinter sich lassen und die Erneuerung auch personell einleiten. Nun geht die neue Parteivorsitzende Nahles gleich mit einem schweren Mühlstein um den Hals an ihre neue Aufgabe. Nahles muss eine völlig zerrissene Partei erneuern. Gelingt ihr das nicht, droht die SPD zu zerfallen.
Unterschätzt hat Nahles das ungewöhnliche Duell mit Lange nicht. Im Vorfeld des Parteitags erzählte sie, diese Parteitagsrede sei die komplizierteste ihres Lebens. „Man kann eine Partei in der Regierung erneuern. Diesen Beweis will ich ab morgen antreten“, sagt Nahles zu Beginn ihrer Rede.
Nahles, der oft vorgeworfen wurde, zu schrill und zu laut zu sein, macht gleich klar, dass sie sich vor ihren Parteifreunden nicht verstellen wird. „Wir wählen heute eine Vorsitzende“, sagt sie in ihrer typischen Art mit langer Betonung auf dem „e“. Sie will auch dem letzten Delegierten deutlich machen, dass erstmals zwei Frauen um den Vorsitz kandidieren.
Während für viele Außenstehende diese „Bätschi-Sprache“ befremdlich wirkt, kommt ihre Authentizität in der SPD an. Auf dem vergangenen Parteitag hat Nahles mit einer Wutrede wahrscheinlich im Alleingang die Mehrheit für den Koalitionsvertrag gerettet.
Nahles wusste, dass sie von vielen Genossen, die sich nach Erneuerung sehnen, als Verkörperung des Partei-Establishments gesehen wird. Nahles war in der SPD schon fast alles: Juso-Vorsitzende, Generalsekretärin, Parteivize, Arbeitsministerin. „Ich bin nicht neu“, sagt sie. Sie versucht auf andere Weise, ihre Wahl als Aufbruchssignal zu verkaufen.
Mehr Mainstream als Revolution
Dass erstmals eine Frau an der Spitze der SPD stehen wird, sei historisch. „Heute, hier auf diesem Bundesparteitag, wird diese gläserne Decke in der SPD für Frauen durchbrochen. Und sie bleibt offen“, ruft sie.
Zudem zeige gerade ihre Biografie, wofür die SPD eintrete. Nahles beschreibt sich mit drei Worten: katholisch, Mädchen, vom Land.
„Es war nicht logisch, dass ich große Karriere in der SPD machen würde“, sagt sie. Dass sie nun vor den Delegierten stehe, „habe ich der SPD zu verdanken“. Sie mache noch immer aus dem gleichen Grund Politik wie vor 30 Jahren, als sie in ihrem Heimatort Weiler in Rheinland-Pfalz einen SPD-Ortsverein mitgründete. „Ich habe heute denselben Antrieb: Man kann mit demokratischen Mitteln die Welt für jeden Menschen besser machen. Es wird uns gelingen, gemeinsam packen wir das, das ist mein Versprechen“, ruft sie mit sich überschlagender Stimme.
Natürlich bedient sie in ihrer Rede auch Sehnsüchte ihrer Genossen, geißelt Missstände einer „neoliberalen, turbodigitalen Welt“, die fortwährend Ungerechtigkeiten schaffe. Das wollen die Genossen hören. Nahles erliegt aber nicht der Versuchung, dem Parteitag das Blaue vom Himmel zu versprechen. Dafür ist sie viel zu pragmatisch. Das wird ganz besonders beim Thema Hartz IV deutlich.
Nahles hätte es sich einfach machen und billigen Applaus einsammeln können, verzichtete aber darauf. „Wenn wir sagen, wir schaffen Hartz IV ab, haben wir keine einzige Frage beantwortet“, sagt Nahles. Entsprechenden Forderungen von großen Teilen der Partei, die noch immer mit Hartz IV hadern, erteilt sie somit eine Absage. Das Signal dahinter: Nahles will die Zeit nicht zurückdrehen.
Auch bei anderen Themen bleibt die neue Chefin inhaltlich eher moderat, mehr Mainstream als Revolution. So forderte Nahles eine klarere Haltung der SPD in Fragen der inneren Sicherheit. Die Partei solle diese Fragen „offensiv und selbstbewusst“ angehen. „Wir müssen ohne jedes Ressentiment und frei von Angst, in irgendeine Ecke gestellt zu werden, die Probleme ansprechen, die in unserem Land existent sind.“ Die Demokratie nehme Schaden, wenn man nicht auf die Einhaltung der Regeln poche, „und zwar ohne Ausnahme gegenüber allen“.
Nahles’ Gegenkandidaten Simone Lange versuchte sich wie erwartet als Anti-Establishment-Option zu positionieren. „Ich bin heute eure Alternative für eine echte Erneuerung der SPD, damit wir die SPD in Zukunft wieder zur Gewinnerin machen können.“
Lange hält eine weniger emotionale Rede als Nahles, ist in der Sache aber härter, etwa bei Hartz IV. „Wenn wir über Hartz IV debattieren, ist das keine Vergangenheitsdebatte. Für Millionen von Menschen ist das Alltag“, sagt Lange. Die SPD habe mit ihrer Politik die Betroffenen enttäuscht. Deshalb möchte sie „sich bei den Betroffenen entschuldigen.“ Lange verspricht viel: Kein Kind solle mehr in Armut leben, kein Rentner mehr aufstocken müssen. Doch wie sie die Probleme konkret lösen will, ließ sie offen.
Dennoch verfängt ihre Rede, Lange bekommt häufig Applaus. Zwar hatte mit Juso-Chef Kevin Kühnert selbst der Kopf der Anti-GroKo-Bewegung gesagt, er werde für Nahles stimmen. Doch viele andere Delegierte verpassten Nahles einen Denkzettel. Zu tief sitzt bei ihnen der Frust über die vergangenen Monate. Der schlechte Wahlkampf. Die internen Machtkämpfe. Der Zickzackkurs nach der Bundestagswahl. Dass Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD ist, dass sie als Arbeitsministerin sozialdemokratische Herzensprojekte wie den Mindestlohn oder die Rente mit 63 durchsetzte – all das spielte für die Kritiker der Parteispitze nur eine untergeordnete Rolle.
Nahles geht geschwächt an die schwere Aufgabe, die SPD zu erneuern. Prominente Genossen drücken ihr die Daumen. Nahles habe ein „eindeutiges Mandat der Partei bekommen, nun die dringend notwendigen inhaltlichen und strukturellen Reformen der SPD voranzutreiben“, sagte Michael Frenzel, Präsident des Wirtschaftsforums der SPD, dem Handelsblatt.
Das stärke auch die Position der SPD in der Großen Koalition. „Trotz Vollbeschäftigung und robuster Konjunktur steht Deutschland vor großen Herausforderungen, um wettbewerbs- und zukunftsfähig zu bleiben. Wir benötigen nun dringend aktives Handeln für die Stärkung des europäischen Binnenmarktes, des freien und fairen Welthandels, starke Investitionen in Forschung, Bildung und Zukunft“, sagte Frenzel. Nahles habe die einzigartige Chance, die Werte und die große Tradition der SPD in ein Konzept zu gießen, das Deutschland zukunftssicher mache.
Am Ende des Parteitags durfte auch Martin Schulz noch einmal kurz reden. Der Ex-Parteivorsitzende hielt ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa. Nahles lobte, niemand anderes als Schulz hätte es vermocht, dem Koalitionsvertrag „eine stark europäische Handschrift“ zu geben. Dann überreicht die neue Parteichefin ihrem Vorgänger eine Willy-Brandt-Lithografie von Hans Stein und ruft Schulz dabei „Solidarität“ zu. Solidarität mit ihrem eigenen Spitzenpersonal muss die SPD aber erst wieder lernen.