Andreas Scheuer Die Anatomie des Maut-Desasters

Nach einem TV-Auftritt von Verkehrsminister Andreas Scheuer werden die Rücktrittsforderungen lauter. Quelle: imago images

Nach einem TV-Auftritt von Verkehrsminister Andreas Scheuer werden die Rücktrittsforderungen wieder lauter. Was ist passiert? Und wie geht es jetzt weiter? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

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Falls dieser Fernsehauftritt als Befreiungsschlag gedacht war, konnte er seine Wirkung nicht entfalten. Im Gegenteil. Verkehrsminister Andreas Scheuer kam in der ZDF-Sendung von Markus Lanz am Donnerstagabend einfach nicht raus aus der Defensive. Ob er falsch gehandelt habe, mit der Vergabe der Pkw-Maut nicht auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gewartet zu haben? Nein, es sei kein Fehler gewesen, wiederholte Scheuer. Daran lässt der CSU-Politiker seit Monaten keinen Zweifel. Was er bei Lanz außerdem sagte, war jedoch, vorsichtig ausgedrückt, bemerkenswert: „Ich habe eine andere Rechtsauffassung als der EuGH.“ Auch wenn er, logisch, das Urteil zu akzeptieren habe.

Das mit der „anderen Rechtsauffassung“ ist durchaus eine heikle Angelegenheit. Dem deutschen Rechtsstaat täte es auf Dauer nicht besonders gut, sollte künftig jeder Bundesminister höchstrichterliche Urteile, die ihm nicht in den politischen Kram passen, in Talkshows mit einer eigenen Auffassung wegdiskutieren wollen – einerseits.

Andererseits entwickelt sich das Maut-Desaster längst zu einer juristischen Schlacht um unterschiedliche Rechtsauffassungen. Dabei geht es aber eben nicht um die Frage, ob Scheuer hätte warten müssen. Dazu haben zwei Gutachter in der ersten Sitzung des Maut-Untersuchungsausschuss alles gesagt: Das Risiko eines negativen EuGH-Urteils sei höher gewesen, als es der Minister und seine Berater wahrhaben wollten. Im Klartext: Ja, er hätte sich besser geduldet.

Es geht auch nicht darum, ob Scheuer seinen Job behält. Das ist eine politische Frage, über die kein Gutachter entscheiden kann, sondern letztlich nur CSU-Parteichef Markus Söder.

Im eigentlichen Streit um Rechtsauffassungen geht es darum, welche finanziellen Folgen das Maut-Desaster haben könnte. Was kostet das CSU-Herzensprojekt Ausländer-Maut am Ende den Steuerzahler? Die Maut-Betreiberfirmen fordern 560 Millionen Euro Schadensersatz für entgangene Geschäfte und anfallende Abwicklungskosten.

Und nur hier kann man, anders als beim EuGH-Urteil, als Verkehrsminister verfassungsrechtlich unproblematisch argumentieren, dass man eben eine andere Rechtsauffassung habe.

Aber wie sieht die eigentlich aus?
Scheuers Ministerium lehnt die Schadensersatzforderungen der Betreiber-Firmen ab. Die autoTicket GmbH, das Gemeinschaftsunternehmen der österreichischen Maut-Firma Kapsch mit der deutschen Ticket-Agentur CTS Eventim, habe Leistungen nicht erfüllt, Fristen nicht eingehalten und die Verträge vorsätzlich verletzt, so die Argumentation des Bundes. So twittert es auch Scheuers „Neuigkeitenzimmer“ in die Welt hinaus.

Es ist der Versuch, das EuGH-Urteil nur als einen von mehreren Gründen für die Kündigung der Verträge anzuführen. Denn, das bestreitet auch das Ministerium nicht, für den Fall einer alleinigen Kündigung aus „ordnungspolitischen Gründen“, darunter fällt etwa ein richterliches Verbot, wurde eine Schadensersatzregelung mit Bezug zum Bruttounternehmenswert vereinbart.

Ist diese Argumentation schlüssig?
Es gibt Schriftverkehr, der die Argumentation des Ministeriums stützt. Darin wurden die Betreiber zu Nachbesserungen aufgefordert. Die wiederum beharren darauf, diesen nachgekommen zu sein. Zudem ist umstritten, welcher Anspruch sich aus Verträgen der Betreiber mit Subunternehmern ergibt.

Scheuer selbst allerdings hat die Schlechtleistungs-Argumentation seines Hauses deutlich geschwächt. Ob er die Verträge denn auch gekündigte hätte, wäre das EuGH-Urteil für ihn positiv ausgefallen, wurde Scheuer im Verkehrsausschuss gefragt. Der Minister verneinte.

Was ist dieser Bruttounternehmenswert?
Der Bruttounternehmenswert umfasst, stark vereinfacht, die entgangenen Gewinne über die gesamte Vertragslaufzeit. Die genauen Regelungen der Berechnung finden sich in Grundsätzen, die das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) aufgestellt hat. Darauf wird im Betreibervertrag explizit verwiesen und auch ein ziemlich teures, vom Ministerium beauftragtes Linklaters-Gutachten, hat genau diese Vereinbarung noch einmal bestätigt.

Dennoch sagte Scheuer im Dezember, aus Sicht des Bundes sei „das von den Betreibern gewählte Verfahren zur Bestimmung des Bruttounternehmenswertes unzulässig“.

Was meint der Minister damit?
Die Betreiber haben einen Wirtschaftsprüfer beauftragt, den Bruttounternehmenswert zu ermitteln. Gemeinsam mit geschätzten Kosten für die Abwicklung der autoTicket GmbH kommt so die Forderung von 560 Millionen Euro Schadensersatz zustande - eine Summe, mit der die Betreiber den Druck auf den Bund erhöhen, aber keine Zahl, die ein im Sinne des Vertrags unabhängiger Gutachter kalkuliert hätte.

Dabei sieht der Vertrag genau so einen Gutachter vor. Demnach soll ein sogenannter Stichtagsprüfer den Bruttounternehmenswert ausrechnen. Das ist ein Wirtschaftsprüfer, auf den sich jedoch beide Parteien, Bund und Betreiber, einigen. Müssen.

An dieser Stelle wird es noch komplizierter als ohnehin schon: Die Betreiber argumentieren, dass die Kündigung automatisch eine solche Stichtagsprüfung auslöst. Sie haben den Bund daher schon vor mehr als einem halben Jahr aufgefordert, gemeinsam einen Gutachter auszuwählen – vergeblich.

Aber auch für diesen Fall sieht der Vertrag eine Regelung vor. Kommt es zu keiner Einigung, kann eine Partei das IDW bitten, einen Prüfer zu bestimmen. Genau das haben die Betreiber getan. Seit ein paar Wochen arbeitet also eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft daran, den Bruttounternehmenswert zu bestimmt. Es ist, nach dem bereits von den Betreibern selbst beauftragten Gutachter, die zweite Prüfung.

Mit seiner Kritik am Verfahren meint Scheuer also diese Stichtagsprüfung.

Was stört ihn daran?
Hier muss man Politisches von Rechtlichem trennen. Politisch kann die Stichtagsprüfung zum jetzigen Zeitpunkt nur schaden. In ein paar Wochen, wenn das Gutachten vorliegt, wird die Schlagzeile lauten: „Unabhängiger Gutachter ermittelt XXX Millionen Euro Schadensersatz.“ Sollte Scheuer bis dahin noch Minister sein, werden spätestens dann die Rücktrittsforderungen wieder besonders laut.

Rein rechtlich argumentiert das Ministerium, dass ein solcher Gutachter erst während des Schiedsgerichtsverfahrens eingesetzt werden muss. Und auch nur dann, wenn es einen Anspruch auf Schadensersatz gibt – den der Bund ja verneint.

Jetzt kommt also auch noch ein Schiedsgericht?
Ja. Momentan läuft das Verfahren der „internen Streitbeilegung“. Dabei sprechen Bund und Betreiber auf verschiedenen Ebenen miteinander. Das ist so etwas wie die Vorstufe zum Schiedsgerichtsverfahren. Sollte man sich in diesen Gesprächen jetzt nicht einigen, wovon sehr sicher auszugehen ist, muss eine der Parteien das Schiedsgerichtsverfahren eröffnen.

Das können die Betreiber sein, die ihre Ansprüche geltend machen wollen. Das kann aber auch der Bund sein, der per „negativer Feststellung“ erreichen will, dass es diese Ansprüche nicht gibt. Letzteres wäre ein eher unkonventionelles Vorgehen. Aber Scheuer könnte so versuchen, in der Öffentlichkeit endlich in die Offensive zu kommen.

Im Verfahren selbst werden dann möglicherweise über Jahre hinweg Schriftsätze mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen ausgetauscht. Entscheidet das Schiedsgericht in einem ersten Schritt, dass die Betreiber Ansprüche haben, werden die wohl argumentieren, dass man sich bei der Summe nach der gerade laufenden Stichtagsprüfung richten sollte. Der Bund würde dann wohl auf ein erneutes Gutachten beharren.

Was soll man sich als Steuerzahler für das Verfahren wünschen?
Das es schnell geht und den Bund möglichst wenig kostet. Wichtiger für die Staatskasse ist natürlich letzteres. Wenn man davon ausgeht, dass die Betreiber ihren Anspruch schon durchsetzen werden, kann man allerdings auch ganz anders argumentieren: Dann wäre ein schnelles Schiedsgerichtsverfahren gut für den Steuerzahler. Der Bund müsste dann zwar zahlen – aber nicht so viel für Zinsen und Anwaltsgehälter wie beim langwierigen Schiedsgerichtsverfahren um die andere Maut, die für Lkw.

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