
Vielleicht begann die Entfremdung bei Volker Kauder. Es ist ein paar Monate her, da gab der Fraktionschef der Union ein öffentliches Versprechen ab, zumindest klang es wie eines: Der Koalitionsvertrag müsse abgearbeitet werden, darüber hinaus aber dürfe es keinerlei Belastungen für die Wirtschaft mehr geben.
„Die Wirtschaft“ hörte das gern und sie zitierte Kauder bei jeder Gelegenheit. Man blendete aber aus, dass Kauder, erstens Teil einer großen Koalition ist, und zweitens noch dazu Gefolgsmann einer Frau, der die Verfassung Richtlinienkompetenz zuspricht.
Darüber hinaus hatte der Konservative Kauder die Hoffnung genährt, das gewisse Vorhaben des Koalitionsvertrages möglicherweise doch geschreddert, oder verzögert, oder wenigstens so verwässert würden, dass es weniger Belastungen als befürchtet geben könnte.
Wenn man den vier Spitzenverbänden am Freitag auf der Internationalen Handwerksmesse in München – und anlässlich des traditionellen Gesprächs dort mit Angela Merkel – zuhört, dann ist diese Hoffnung allerdings den Abfluss runter: Ein Belastungsmoratorium! Verlässliche Signale für Investitionen! Die Reformuhr darf nicht zurückgedreht werden! Das waren die Rufe.
Weiterbildungsausgaben der deutschen Wirtschaft
369 Euro pro Kopf.
Quelle: IW-Weiterbildungserhebung 2014, Zahlen gerundet; direkte und indirekte Kosten 2013, ohne Auszubildende
351 Euro pro Kopf.
162 Euro pro Kopf
95 Euro pro Kopf.
88 Euro pro Kopf.
59 Euro pro Kopf.
9 Euro pro Kopf.
1.133 Euro pro Kopf.
Warum nur? Das Land ist auf der Höhe seiner ökonomischen Blüte, die Konjunktur ist robust, aber der Ton der Erklärung, den die Verbände zu dem Spitzengespräch verfasst haben, ist alarmistisch, bockig, fast schon ungehalten. Das Klima zwischen Regierung, der Kanzlerin und der Wirtschaft leidet unter einem heftigen Temperatursturz.
Drei Gründe – von gestern, heute und morgen –, warum dieses Verhältnis kalt geworden ist:
Von gestern: Mindestlohn
Es hat schon lange kein Gesetz mehr gegeben, das so kurz nach seiner Einführung derart unter Beschuss geraten wäre, wie der Mindestlohn. Seit dem 1. Januar gilt er - der Klagegesang ist seitdem nicht ab-, sondern immer weiter angeschwollen. Dabei geht es weniger um die 8,50 Euro Stundenlohn. Die sind dann doch für das Gros deutscher Arbeitgeber weniger ein Problem. Es geht vielmehr um Haftung und um Bürokratie, um Dokumentationspflichten, aber ganz besonders um ein gesetzlich festgegossenes Misstrauensvotum: Vielleicht, so wirkt der Koalitions-Subtext auf viele Klein-Unternehmer, zahlt ihr alle anständig. Aber ihr müsst es erstmal beweisen. Dieser Ton macht die Musik. Und er ist eisig.
Hier spüren Verbraucher den Mindestlohn
Das Friseurhandwerk gilt als klassische Niedriglohnbranche. Über einen Branchentarifvertrag gibt es hier schon seit mehr als einem Jahr einen Mindestlohn, der zum 1. August 2015 auf 8,50 Euro steigt.
Zum 1. August 2013 hatten sich Handwerk und die Gewerkschaft Verdi auf eine bundesweite Lohnuntergrenze geeinigt, die nun schrittweise steigt. Vor allen in Großstädten machen sich Friseure große Konkurrenz. Stundenlöhne um vier Euro waren in früheren Zeiten nicht ausgeschlossen. Deutliche Preissteigerungen gab es schon und wird es nach Ansicht der Branche vor allem dort geben, wo die Löhne bisher nicht stimmten.
Auch hier werden Kunden bald tiefer in die Tasche greifen müssen. Bisher zahlt die Branche nach Schätzungen des Deutschen Taxi- und Mietwagenverbands rund 6,50 Euro pro Stunde. Der Lohn ist dabei oft am Umsatz orientiert. Die Tarife werden von den Kommunen festgelegt.
An ihre Adresse gibt es bereits viele Anträge auf Preiserhöhungen, im Schnitt von 20 bis 25 Prozent. Die Branche rechnet aber auch damit, dass Unternehmen die Anzahl ihrer Wagen reduzieren und Stellen streichen könnten. Branchenkenner halten Tricksereien für möglich, um den Mindestlohn zu umgehen. In jedem Fall steht die Branche vor großen Umstrukturierungen.
Viele Obst- und Gemüsebauern gehen davon aus, dass ihre Preise steigen, zum Beispiel für Erdbeeren, Spargel, Sauerkirschen und Äpfel. Denn der Mindestlohn gilt auch für Erntehelfer - allerdings noch nicht sofort.
Für Saisonarbeiter in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau soll der Stundenlohn hier schrittweise ab 2015 von 7,40 im Westen und 7,20 im Osten auf einheitliche 9,10 Euro im Jahr 2017 steigen. Viele Landwirte sehen das als Wettbewerbsnachteil in der EU. In anderen Staaten gebe es zwar auch Mindestlöhne, aber sie lägen deutlich niedriger.
Einen Mindestlohn in der Pflegebranche gibt es bereits seit Mitte 2010. Zurzeit liegt er im Westen bei 9 und im Osten bei 8 Euro. Ab Januar 2015 sind es dann 9,40 Euro und 8,65 Euro. Das gilt für Betriebe - vom Pflegeheim bis zu ambulanten Diensten. In zwei Schritten soll der Mindestlohn bis Januar 2017 auf 10,20 Euro pro Stunde im Westen und 9,50 Euro im Osten steigen. Ab 1. Oktober 2015 solle der Pflegemindestlohn neu auch für Betreuungs- und Assistenzkräfte in Heimen gelten.
Privathaushalte, die eine Pflegekraft beschäftigen, sollen ab Januar den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen. Der Arbeitgeberverband Pflege geht davon aus, dass Pflege damit teurer wird - allerdings nicht sofort und auch nicht in riesigen Sprüngen. Denn bereits jetzt verdiene die Mehrzahl der Pflegehilfskräfte mehr als den Mindestlohn, sagte Sprecher Steffen Ritter. Auch stiegen die Beiträge zur Pflegeversicherung in den kommenden Jahren um rund einen Prozentpunkt an und federten die Lohnsteigerungen ein wenig ab.
Das erklärt auch den Furor gegen die Regularien der Arbeitszeitkontrolle: Unter die Mindestlohn-Kontrolle fallen in einigen Branchen nun eben auch Arbeitnehmer, die etwas mehr als 2900 Euro brutto monatlich verdienen. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) kann sehr ausführlich erklären, warum sie das für sinnvoll hält. Aber viele Unternehmer fühlen sich einfach zu Unrecht gebrandmarkt: als potenzielle Gesetzesbrecher.
Von heute: Frauenquote
Man kann für die Quote sein, man kann dagegen sein, das unangenehme an der Frauenquote ist nur, dass man sich in jeder Position sehr schnell sehr unbehaglich fühlt: entweder als Feind von Gleichberechtigung und weiblichem Aufstieg – oder als staatsdirigistischer Planfetischist, der die (Wirtschafts-)Welt so biegen will, wie sie (noch) nicht ist.
Frauenquote in Vorständen der 100 größten Banken
2010: 2,0 Prozent
2011: 2,5 Prozent
2012: 3,6 Prozent
2010: 4,2 Prozent
2011: 5,4 Prozent
2012: 5,1 Prozent
2010: 3,8 Prozent
2011: 3,3 Prozent
2012: 4,6 Prozent
Sei's drum: Der Bundestag hat sich vor wenigen Tagen mehrheitlich dafür entschieden, ein staatsdirigistischer Aufstiegsfreund zu sein. Größeres Unbehagen war nicht mehr festzustellen. Das Problem der Wirtschaft damit ist folgendermaßen beschrieben: Man ist ordnungspolitisch erstmal gegen die Quote, aber natürlich für die Förderung von Frauen, um dann aber – Ausnahmen bestätigen die Regel – vorgehalten bekommen zu müssen, dass freundliches Zureden und betriebliche Kita-Offensiven in den vergangenen Jahren ziemlich wenig gebracht haben.
Weil die Politik, einschließlich der Kanzlerin und ihrer Union, mittlerweile so eindeutig pro harte Quote ist, kommt man sich auf der Seite der Wirtschaft mit dieser Ich-möchte-eher-nicht-Haltung irgendwie eigenartig vor. Unverstanden, aus der Zeit gefallen, dogmatisch, unmodern. Was verschafft wenigstens ein bisschen Erleichterung? Motzen.
Von morgen: Erbschaftsteuer
Die Kanzlerin gab sich in München am Freitag sehr vage – und das zu allem Überfluss in einer zentralen Glaubensfrage des deutschen Unternehmertums. Mit der geplanten Reform der Erbschaftssteuer solle nicht in die Struktur der Familienunternehmen eingegriffen werden, versprach sie. Über die Einzelheiten müsse aber „weiter gesprochen werden". Und: „Ich kann jetzt noch nichts versprechen.“
Nicht einmal auf diesem Feld gab es also verlässliche Signale der Erleichterung. Dabei ist die Frage, ob und wie Unternehmer ihr betriebliches Lebenswerk möglichst unbeschadet an die Kinder übertragen können, für viele die wesentliche. Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte sich um deren Beantwortung nicht gerissen, aber das Bundesverfassungsgericht hat Berlin zu einer Neuregelung gezwungen.
Nun soll das Aufkommen der Steuer – und damit die Belastung für Erben und Firmen – hinterher nicht wachsen, gleichzeitig müssen die Kriterien nachvollziehbarer und gerechter werden – denen gegenüber, die keinen Betrieb, sondern andere Vermögen erben.
Schäubles erste Überlegungen zur Reform ließen Familienunternehmen leider Schlimmeres befürchten. Die Kanzlerin konnte diese Ängste in München offensichtlich noch nicht entkräften. Oder sie wollte nicht. Es bleibt also kalt.