WirtschaftsWoche: Herr Peil, auf einem Berliner Weihnachtsmarkt ist ein Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren. Mindestens zwölf Menschen wurden getötet, mehr als vierzig verletzt. Was bedeutet so eine Tat für das Sicherheitsgefühl in Deutschland?
Florian Peil: Eine solche Tat ist geeignet, bei vielen Menschen das Gefühl von Sicherheit in Deutschland zu untergraben und das Vertrauen in den Staat und die Sicherheitsbehörden zu schwächen. Wir sollten uns vor Augen halten, dass es in einer freien Gesellschaft wie der unseren keinen hundertprozentigen Schutz vor Terrorismus gibt. Ebenfalls sollte man sich vor Augen halten, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, äußerst gering ist. Der psychologische Effekt auf eine Gesellschaft ist hingegen viel gravierender: Wenn die Menschen nicht mehr auf den Weihnachtsmarkt gehen, weil sie sich durch Terroristen bedroht fühlen, dann haben die Terroristen gewonnen.
Große Terroranschläge in Europa
Ein Lieferwagen rast auf der Flaniermeile "Las Ramblas" im Zentrum Barcelonas in eine Menschenmenge. Nach offiziellen Angaben soll es mindestens einen Toten und 32 Verletzte gegeben haben, Medien berichten von zwölf Toten. Die Polizei bestätigt, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Die Hintergründe der Tat sind zunächst unklar.
Auf der London Bridge überfahren drei Attentäter mehrere Fußgänger, dann greifen sie eine beliebte Markthalle an. Mindestens sechs Menschen kommen ums Leben, die Angreifer werden getötet.
Bei dem Selbstmordanschlag in Manchester auf Gäste eines Pop-Konzerts hatte Salman Abedi, ein Brite libyscher Abstammung, 22 Menschen ermordet. Außerdem wurden 116 Menschen zur Behandlung von Verletzungen in Krankenhäuser gebracht. Die Polizei geht davon aus, dass Abedi kein Einzeltäter war, sondern dass ein ganzes Terrornetzwerk hinter der Tat steckt.
Auf dem Pariser Boulevard Champs-Élysées schießt ein Islamist mit einem Sturmgewehr in einen Polizeiwagen. Ein Beamter wird getötet, zwei weitere Polizisten und eine deutsche Passantin werden verletzt. Die Polizei erschießt den Angreifer, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamiert die Attacke für sich.
Ein gekaperter Lastwagen rast in einer Einkaufsstraße erst in Stockholm in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus. Fünf Menschen werden getötet, 15 verletzt. Noch am selben Tag nimmt die Polizei einen 39-jährigen Usbeken unter Terrorverdacht fest.
Ein Attentäter steuert ein Auto absichtlich in Fußgänger auf einer Brücke im Zentrum Londons und ersticht anschließend einen Polizisten. Von den Opfern auf der Brücke erliegen vier ihren Verletzungen. Sicherheitskräfte erschießen den Täter.
Auf dem Pariser Flughafen Orly verhindern Soldaten nur knapp einen möglichen Terroranschlag. Ein Mann will einer dort patrouillierenden Soldatin das Gewehr entreißen und wird von anderen Soldaten erschossen. Erst Anfang Februar war nahe dem Louvre-Museum ein Ägypter niedergeschossen worden, der sich mit Macheten auf eine Militärpatrouille gestürzt hatte.
Am Abend des 19. Dezember 2016 rast ein LKW in einen Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Das Attentat fordert 12 Tote und viele teils Schwerverletzte.
In Nordfrankreich ermorden zwei Angreifer einen katholischen Priester in einer Kirche und verletzen eine weitere Person schwer. Beide Attentäter werden von den Sicherheitskräften erschossen.
In Ansbach in Bayern sprengt sich ein 27-jähriger syrischer Flüchtling vor dem Eingang zu einem Musikfestival mit einer Rucksackbombe in die Luft. Der Attentäter stirbt. 15 Menschen werden verletzt. Auf dem Handy des Mannes findet die Polizei später ein Bekennervideo. Das IS-Sprachrohr Amak behauptet einen Tag später, der Attentäter sei „Soldat des Islamischen Staates“.
In einem Vorort von Würzburg greift ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan in einem Regionalzug Fahrgäste mit einer Axt an. Er verletzt mehrere Menschen teils schwer. Auf seiner Flucht wird er von der Polizei erschossen. Einen Tag später veröffentlichte das IS-Sprachrohr Amak im Internet ein Video des Attentäters. Darin spricht er davon, dass er im Auftrag des IS gehandelt habe und sich an Nicht-Muslimen rächen wollte, die seinen Glaubensbrüdern Leid angetan hätten.
In Nizza fährt ein schwer bewaffneter Franzose tunesischer Herkunft mit einem Lastwagen in die Menge, die den französischen Nationalfeiertag feiert. Er tötet 84 Menschen.
Am Flughafen Istanbul-Atatürk schoss am 28. Juni 2016 ein Attentäter in der Eingangshalle mit einem Sturmgewehr um sich, warf Handgranaten in die Menge und zündete einen Sprengsatz. Zeitgleich sprengte sich ein weiterer Attentäter in einem Parkhaus in die Luft. Ein dritter Täter zündete offenbar einen Bombe in U-Bahn-Nähe. Die türkische Regierung ordnet den Anschlag dem Islamischen Staat zu. Insgesamt kamen 44 Menschen ums Leben (darunter die drei Attentäter); 239 weitere wurden verletzt. (Stand: 29.06.2016, 14:30 Uhr)
Ein Franzose marokkanischer Herkunft ermordet in einem Pariser Vorort einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der Polizei arbeitet.
Am Morgen des 22. März 2016 sprengten sich zwei Terroristen am Flughafen Brüssel-Zaventem in die Luft sowie ein weiterer im U-Bahnhof Maalbeek/Maelbeek in der Brüsseler Innenstadt nahe der EU-Behörden. Nach offiziellen Angaben kamen 35 Menschen ums Leben, darunter drei der Attentäter. Mehr als 300 Personen wurden verletzt.
Zwei Attentäter brachten ihr gestohlenes Auto an der Bushaltestelle einer Metrostation im Stadtzentrum von Ankara zur Explosion – 38 Menschen kamen ums Leben, darunter waren auch die Attentäter. Mehr als 120 Menschen wurden verletzt. Zu dem Anschlag, der sich am 13. März 2016 ereignete, bekannte sich eine Splittergruppe der Terrororganisation PKK.
Ein IS-Attentäter sprengte sich am 12. Januar 2016 auf dem belebten Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul in die Luft – und riss 12 Menschen mit in den Tod. Elf von ihnen gehörten einer deutschen Touristengruppe an. 13 weitere Personen wurden verletzt.
Extremisten mit Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat greifen die Konzerthalle Bataclan und andere Ziele in der französischen Hauptstadt Paris an. Dabei kommen 130 Menschen ums Leben. Ein Hauptverdächtiger im Zusammenhang mit den Angriffen ist der 26 Jahre alte Salah Abdeslam, der am 18. März 2016 in Brüssel festgenommen wird.
Ein 22-jähriger radikalislamischer Angreifer tötet den Filmemacher Finn Nørgaard und einen jüdischen Wachmann einer Synagoge in Kopenhagen. Bei einem Feuergefecht mit einer Spezialeinheit der Polizei wird er erschossen.
Drei Extremisten töten bei einer mehrere Tage dauernden Terrorwelle in Paris 17 Menschen, bevor sie selbst erschossen werden. Zunächst greifen zwei Brüder das Büro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ an und erschießen zwölf Menschen. Für den den Angriff übernimmt Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel die Verantwortung. In den Tagen darauf tötet ein weiterer Extremist eine Polizistin und nimmt in einem koscheren Supermarkt Geiseln. Vier jüdische Kunden sterben.
Im Jüdischen Museum in Brüssel tötet ein Angreifer mit einer Kalaschnikow vier Menschen. Der mutmaßliche Täter ist ein ehemaliger französischer Kämpfer, der Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien haben soll.
Zwei von Al-Kaida inspirierte Extremisten greifen auf einer Londoner Straße den britischen Soldaten Lee Rigby an und töten ihn mit Messern und einem Fleischerbeil.
Ein Bewaffneter, der nach eigenen Angaben Verbindungen zur Al-Kaida hat, tötet in der südfranzösischen Stadt Toulouse drei jüdische Schulkinder, einen Rabbi sowie drei Fallschirmjäger.
Der muslimfeindliche Extremist Anders Behring Breivik legt eine Bombe im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo und greift anschließend ein Jugendlager auf der Insel Utøya an. 77 Menschen werden getötet, viele davon Teenager.
52 Pendler kommen ums Leben, als sich vier von Al-Kaida inspirierte Selbstmordattentäter in drei Zügen der Londoner U-Bahn und einem Bus in die Luft sprengen.
Bombenanschläge auf Züge zum Madrider Bahnhof Atocha töten 191 Menschen.
Die Tat ruft Erinnerungen an den Anschlag in Nizza im Sommer hervor. Terrorgruppen wie der IS haben bereits 2014 zu Attacken mit Fahrzeugen aufgerufen und im Netz finden sich Leitfäden für ein solches Attentat. Hätten die Behörden in Deutschland sich auf so ein Tatschema vorbereiten können?
Die Idee, Anschläge mittels Fahrzeugen zu verüben, ist nicht neu und auch keine Erfindung des IS. Bereits 2010 hat Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) in ihrem Propagandamagazin Inspire diese Vorgehensweise vorgestellt. Der IS hat diese Idee übernommen. Von daher ist ein solchen Szenario nicht neu und den Behörden bekannt.
Zur Person
Florian Peil ist Sicherheitsberater mit dem Schwerpunkt Nahost und Nordafrika. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich mit der arabischen Welt. Vor seiner Beratungstätigkeit war er war unter anderem bei einer deutschen Sicherheitsbehörde in der Terrorismus-Bekämpfung beschäftigt. Heute berät er Unternehmen, die in Nahost und Nordafrika tätig sind. Aktuell ist von ihm das Buch: "Terrorismus - wie wir uns schützen können" beim Murmann Verlag (ISBN: 978-3-86775-5598).
Das Perfide am Terrorismus ist ja, dass wir nur in einigen Fällen frühzeitig erfahren, welcher Terrorist wann auf welche Weise zuschlagen will. Soll man alle öffentlichen Plätze nur deswegen durch Poller schützen, weil der IS in einem Propagandamagazin Anschläge mittels Fahrzeugen vorschlägt? Die Kosten würden in die Millionen gehen. Wenn ein Anschlagsversuch dann ausbleibt, haben die Terroristen trotzdem gewonnen, weil sie den Steuerzahlern erhebliche zusätzliche Kosten aufgebürdet hätten. Von daher: Es bleibt ein ständiges Abwägen zwischen Kosten und Nutzen solcher Maßnahmen.
Wie hat Frankreich nach dem Anschlag in Nizza reagiert? Was kann Deutschland daraus lernen?
Gegenwärtig ist die Bedrohungslage in Frankreich noch deutlich größer als in Deutschland, deswegen ist das schwierig zu vergleichen. Hierzulande ist es von entscheidender Bedeutung, besonnen auf einen möglichen Terroranschlag zu reagieren. Wann immer eine Gesellschaft mit Hass und Rache reagiert, hat sie bereits verloren. Es geht aber darum, dass wir unsere Werte wie die Freiheit verteidigen, indem wir sie leben. Geben wir den Terroristen nicht, was sie wollen.
In Israel, wo es Anschläge mit Fahrzeugen bereits öfter gab, finden sich an nahezu jeder Bushaltestelle Poller, die so etwas verhindern sollen.
In Ländern, in denen es wiederholt zu derartigen Angriffen gekommen ist, sind solche Schutzmaßnahmen natürlich notwendig. In Deutschland war das bislang nicht der Fall, zumal die Bedrohung durch den Terrorismus nicht im Ansatz mit der in Israel zu vergleichen ist. Was dort gerechtfertigt sein mag, würde hier völlig unangemessen wirken. Diese Attacke in Berlin dürfte aber zu einem Umdenken führen, so dass in der Folge entsprechende Schutzvorrichtungen zumindest an zentralen Plätzen installiert werden.
"Die Schutzmaßnahmen müssen erhöht werden"
Was macht das Tatschema – ob es jetzt eine Amokfahrt war oder ein Terroranschlag – so gefährlich?
Das Perfide ist, dass es so einfach ist: Ein Alltagsgegenstand wird in eine Waffe umfunktioniert. Lkw sind im Stadtbild alltäglich, sie fahren zu Tausenden überall in Deutschland herum, von daher fällt ein solcher nicht auf. Mit einem Lkw in eine Menschenmenge zu rasen, erfordert weder besonders aufwendige Planung noch Aufklärung, zumal bei der Vielzahl von Weihnachtsmärkten in dieser Jahreszeit. Es ist weitaus schwieriger, die Materialien zum Bau einer Bombe in ausreichender Menge zu beschaffen. Dabei ziehen Sie viel eher die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich.
Lassen sich Großveranstaltungen wie ein Weihnachtsmarkt überhaupt schützen?
Grundsätzlich ja. Doch ein solcher Vorfall spricht dafür, dass die Schutzmaßnahmen nochmals erhöht werden sollten. Der Zugang zu solchen Plätzen muss stärker reguliert werden, von daher braucht es zunächst an zentralen Plätzen gezielte bauliche Maßnahmen und mehr Personal. Auch die Menschen selber haben die Möglichkeit, etwas zu tun. Sie können wachsamer sein, aufmerksamer für das, was um sie herum passiert. Wer seine Augen offen hält, erkennt eine potentielle Bedrohung früher als derjenige, der es nicht tut. Das verschafft einem mitunter die Sekunden, die man braucht, um sich in Sicherheit zu bringen. Wachsamkeit erhöht ihren Handlungsspielraum.
Nur wenige Minuten nach dem Angriff wurden über ein bundesweites Meldesystem Polizeikräfte in ganz Deutschland alarmiert und ihre Präsenz erhöht. Was bringt so etwas?
Die Lage ist bei einem solchen Ereignis zunächst immer unklar und unübersichtlich. Die Behörden müssen grundsätzlich auf die Möglichkeit vorbereitet sein, dass es mehrere Teams von Terroristen gibt, die parallel an unterschiedlichen Orten zuschlagen wollen. Das würde die Schockwirkung eines solchen Angriffs deutlich erhöhen. Entsprechend müssen die Behörden reagieren. Entwarnung gibt es erst, wenn diese Möglichkeit ausgeschlossen werden kann, weil zum Beispiel die Ermittlungen ergeben, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, wie etwa bei dem Amoklauf in München.
Die Informationslage ist nach wie vor dünn. Das hielt Rechtspopulisten aber schon Montagabend nicht davon ab, die Tat mit dem Flüchtlingsstrom in Verbindung zu bringen.
Rechtspopulisten glauben, durch markige Worte Stärke zu zeigen. Tatsächlich machen sie sich mit der pauschalen Verdammung von Flüchtlingen oder Muslimen zu Helfershelfern der Jihadisten. Denn ein Ziel beispielsweise des IS ist es ja, unsere Gesellschaften zu spalten. Dazu instrumentalisieren sie interne gesellschaftliche Spannungen. Und die Rechtspopulisten sind ihre willigen Helfer.