Anschlag in Berlin "Wenn wir nichts tun, drohen uns französische Zustände"

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"Integration ist ein Prozess, an dem wir kontinuierlich arbeiten müssen"

Erwartet uns in Deutschland ähnliches? Schließlich kamen seit 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge und Asylbewerber ins Land, die zum Teil ihre Familien zurückließen, eine lebensgefährliche Flucht auf sich nahmen, um hier ein besseres Leben zu führen. Statt eines Jobs und einer Perspektive warten hier „besorgte Bürger“, Populisten und Arbeitslosigkeit auf sie. Wächst da nicht eine große Menge Frustrierter heran?
Genau das müssen wir verhindern, sonst erhalten auch wir in Deutschland französische Zustände, inklusive Ghettoisierung wie in den Pariser Vororten. Dann müssten wir uns über ein ähnliches terroristisches Bedrohungspotenzial wie in Frankreich sorgen. Das zu verhindern ist eine große Herausforderung. Ein paar Zehntausend Flüchtlinge kann eine große Gesellschaft relativ leicht integrieren. Bei mehr als einer Million Flüchtlingen auf einen Schlag ist die Herausforderung unermesslich größer. Und auch die Gefahr, dass größere Personengruppen nicht so berücksichtigt werden, wie wir das tun müssten.

Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Ganz unabhängig von der Terrorismusfrage haben wir bis heute das Problem, dass es oft bei einer Bewerbung eine Rolle spielt, ob ein Name ausländisch klingt oder nicht und in welchem Stadtteil der Bewerber wohnt. Wenn junge Einwanderer sich etwa mit den Menschen aus der Nachbarstadt vergleichen, die genau so alt sind und einen ähnlichen Bildungshintergrund haben, aber aus Gründen wie der Herkunft in der Gesellschaft mehr Erfolg haben, ist das der größte Quell für Frustration. Wir dürfen niemandem das Gefühl geben, im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt zu werden.

Und wie sollen wir das bewerkstelligen?
Gerade bei den Neuangekommenen wäre es ein erster Schritt aufzuklären, welche Möglichkeiten man in unserer Gesellschaft hat, erfolgreich zu werden und was wir als Gesellschaft von ihnen im Gegenzug verlangen. Offenheit für die Flüchtlinge und Verständnis für ihre Probleme sind vonseiten der Gesellschaft ganz wichtig. Die Integration ist ein Prozess, an dem wir kontinuierlich arbeiten müssen. Bei über einer Million Flüchtlingen, die im Land sind, kommen wir da nicht drum herum.

Besteht auch Nachholbedarf über das Soziale hinaus? Der aktuelle Fall in Berlin wirft viele Fragen auf. Der Tatverdächtige soll etwa gezielt nach Waffen und Mittätern gesucht und zuvor bereits in Italien eine Haftstrafe verbüßt haben. Wie kann es sein, dass der Tatverdächtige sich in Deutschland so frei bewegen konnte?
Der Schengen-Raum, in dem innerhalb Europas auf Grenzkontrollen verzichtet wird, ist einerseits eine große Errungenschaft. Bei Sicherheitsfragen kann er nur funktionieren, wenn alle Mitgliedsstaaten eng kooperieren und nationale Egoismen und Vorlieben beiseiteschieben. Hier gibt es weiterhin großen Verbesserungsbedarf in der Kooperation, denn sonst wären der Tatverdächtige von Berlin, aber auch der Mörder einer Freiburger Studentin, der bereits in Griechenland wegen eines Mordversuchs in Haft saß, schon bei ihren Asylanträgen aufgeflogen.

Hat das System also versagt?
Es ist insofern ein systemisches Versagen, als einer grenzüberschreitenden Gefährdung durch eine grenzüberschreitende Abwehr begegnet werden muss. Wir brauchen also europäische Institutionen der Terror- und Kriminalitätsbekämpfung. Eine bloße Kooperation der Mitgliedsstaaten ist nicht genug. Damit ist aber eine Abgabe nationaler Kompetenzen an die europäische Ebene verbunden, die die nationalen Regierungen jedoch nicht besonders schätzen. Europa als Ganzes würde hierdurch aber gewinnen, nicht nur an Sicherheit, sondern auch dadurch, dass die Vorteile der Europäischen Union viel besser erkennbar wären.

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