Arbeit Erfahrungen mit dem Mindestlohn

Wenn ab Mai die Zeitarbeit dazukommt, gilt für mehr als drei Millionen Beschäftigte ein Mindestlohn. Was ändert das?

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Am Prüfstand Quelle: Ingo Rappers für WirtschaftsWoche

Wenig liegt ferner, als dass diese beiden Herren sich mal in die Haare geraten könnten. Gerd Peters ist Unternehmer in Essen, Hagen Lesch Wirtschaftsforscher beim unternehmernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Wenn Lesch ein Gutachten erstellt, dann freut sich Peters meist über neue Argumente, die ihm in Tarifverhandlungen nützen. Und wenn über Leschs Veröffentlichungen der Slogan steht „sozial ist, was Arbeit schafft“, dann sind damit Unternehmer wie Peters gemeint. Trotzdem verdanken sie es nur einem glücklichen Umstand, dass es zwischen ihnen noch nicht zur Auseinandersetzung gekommen ist: Sie haben sich noch nie getroffen.

Was nicht nur diese beiden, sondern ihre ganzen Zünfte umtreibt, ist der Mindestlohn. Die meisten Wirtschaftsforscher halten ihn nach wie vor für großen Mist, Politiker und Gewerkschaften aber finden ihn mehrheitlich gut. Beide Seiten können nicht recht haben, dennoch breitet sich der Mindestlohn weiter aus.

Ausweitung des Mindestlohns auf die Zeitarbeit

Ab Anfang Mai wird es auch für Zeitarbeiter und Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung eine staatlich verordnete untere Lohngrenze geben. Im Westen liegt sie für befristet Beschäftigte zunächst bei 7,79 Euro pro Stunde, im Osten bei 6,89 Euro. Der staatliche Eingriff soll die Zeitarbeiter vor billiger Konkurrenz schützen, wenn ab Mai auch Osteuropäer die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU genießen – und den hoch qualifizierten Ausbildungskräften ein halbwegs angemessenes Auskommen sichern. Es werden die Branchen Nummer 13 und 14 mit Mindestlohn sein, 3,6 Millionen Menschen sind dann von der Regel betroffen.

Aus ökonomischer Sicht gibt es viele Gründe, den Mindestlohn für problematisch zu halten, empirisch jedoch prägt er das Arbeitsleben von bald mehr als zehn Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten – und das zum Teil schon seit mehr als zehn Jahren. Was also hat er verändert? Mit Ausnahme einer Studie des Arbeitsökonomen Dieter Möller über den Bausektor gibt es keine einzige wissenschaftliche Untersuchung zu den Folgen hierzulande, die Einschätzungen der Verbände sind von politischen Argumenten überlagert, Querschnittsdaten fehlen. Umso mehr lohnt der Blick auf Unternehmen, um aus exemplarischen Erfahrungen abzuleiten, wie der Eingriff ins tarifliche Lohngefüge die Arbeitswelt verändert.

Gerd Peters hätte es sich selbst lange nicht träumen lassen, dass er mal zum Mindestlohn-Verfechter werden würde. „Ich bin Geschäftsmann, Löhne sind für uns nun mal in erster Linie Kosten“, sagt er. Dass Peters, der das Unternehmen mit dem naheliegenden Namen Elektro Peters und seinen gut 30 Mitarbeitern seit Anfang der Achtzigerjahre leitet, sich kurz nach der Wiedervereinigung trotzdem für Tarifpolitik einsetzt, liegt dann auch eher daran, dass er Arbeitnehmerrechte begrenzen, nicht stärken will. 1992 wird er Mitglied im Tarifausschuss für das Elektrohandwerk in Nordrhein-Westfalen, es geht um die 38-Stunden-Wochen und dass der Vati samstags den Kindern gehören soll. Peters kämpft gegen beides.

Doch wenig später ändern sich die Rollen, Peters und viele seine Unternehmerkollegen sind plötzlich von billiger Konkurrenz umzingelt und geraten selbst in Not. Für Peters kommt die Konkurrenz vor allem aus Holland, im Norden sind es dänische Unternehmen, im Osten polnische. Letztere wiederum machen ihren Westkollegen Konkurrenz. Peters Geschäft mit der öffentlichen Hand und bei Neubauten insgesamt bricht zusammen, er muss ein Drittel der Belegschaft entlassen. Der Mindestlohn, 1997 erstmals in der Baubranche erlassen, ist für ihn jetzt Chance und Gefahr zugleich. Er könnte die Billigkonkurrenz fernhalten, doch er würde Peters eigener Preisgestaltung einiges an Flexibilität rauben. Aber die Not ist groß, und so setzt Peters sich für den Mindestlohn ein und ihn schließlich durch. Noch 1997 wird er von den Tarifparteien im Elektrohandwerk vereinbart, 1998 für allgemeinverbindlich erklärt. Für Peters wendet sich damit die Sache, Umsatz und Beschäftigtenzahl erreichen bald altes Niveau.

Der Mindestlohn soll Quelle: dapd

Für Forscher Lesch jedoch fängt das Problem hier erst an. „Solange eine Dienstleistung weiter nachgefragt wird, lohnt sich der Mindestlohn für die ansässigen Unternehmer“, sagt Lesch. „Aber was ist mit der Volkswirtschaft?“ Für die wird die Leistung unter Umständen teurer, zudem können die positiven Beschäftigungseffekte in Deutschland durch negative in den Nachbarländern überkompensiert werden, wo der Mindestlohn die gleiche Wirkung wie ein Einfuhrzoll hat.

Zumindest eines dieser Argumente scheint Peters’ praktische Erfahrung zu entkräften: den übermäßigen Preisanstieg. Heute ist die Nähe zur Grenze für ihn kein Problem mehr, sondern Standortvorteil. „In den Niederlanden kann man mehr verdienen.“ Auch an der Grenze zu Dänemark hat sich das Lohnniveau gedreht, statt sich über die skandinavische Konkurrenz ärgern zu müssen, pendeln norddeutsche Elektroinstallateure heute selbst Richtung Skagerrak. Bleibt das Niveau so moderat wie im Elektrohandwerk, wo der Mindestlohn lediglich in Ostdeutschland für die untersten drei tariflichen Lohnstufen eine Steigerung brachte, so Peters’ Erfahrung, dann wird das Preisniveau kaum beeinflusst.

Wirkung des Mindestlohns ist umstritten

Auch bei dieser Frage jedoch warnt Wissenschaftler Lesch vor einfachen Schlüssen. „Allein das Ausbleiben übermäßiger Lohnsteigerungen verheißt noch keinen Erfolg des Mindestlohns.“ Im besten Falle sei es Beleg dafür, dass die Lohngrenze wirkungslos geblieben sei. Im ungünstigen Fall könne man dies als Indiz dafür werten, dass eingetreten ist, was Ökonomen den „Klebeeffekt“ nennen: Demnach führt ein Mindestlohn dazu, dass sich die Löhne dem vorgegebenen Niveau annähern, insgesamt sinkt so das Lohnniveau.

Petra Schülke ist ebenfalls Unternehmerin, doch Peters’ Begeisterung für den Mindestlohn teilt sie nicht: „Er hat wenig gebracht, außer neue Bürokratie und unzufriedene Mitarbeiter.“ Die gelernte Krankenschwester betreibt den ambulanten Pflegedienst Carepool in Hannover mit gut 130 Mitarbeitern. Der seit Mitte 2010 in der Branche geltende Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ist so niedrig, dass er auf die Bezahlung ihrer Angestellten keinen Einfluss hat.

Kein Spaziergang: Quelle: dpa

Genau deshalb hat ihr der einheitliche Mindestlohn für alle Beschäftigten in der Branche auf die Stimmung geschlagen: „Bei den Mitarbeitern wurde er als Vergleichsmaß für den Wert verschiedener Berufe interpretiert“, sagt Schülke. Dass dabei die Angestellten in der Pflegebranche pauschal mindestens 8,50 Euro pro Stunde bekommen, während beispielsweise Glas- und Fassadenreinigern 11,13 Euro oder Dachdeckern 10,80 Euro zustehen, frustrierte Schülkes Mitarbeiter. „Branchen, in denen es einen Mindestlohn gibt, werden von möglichen Interessenten als zweitklassig wahrgenommen“, so Schülke.

Mindestlohn kann auch frustrierend für Beschäftigte sein

Auch IW-Wissenschaftler Lesch sieht den Mindestlohn hier in einem Dilemma: Ist er hoch genug, geht von ihm ein motivierender Effekt auf die Beschäftigten aus. Ist er allerdings niedrig, schlägt die günstige Nebenwirkung schnell in eine frustrierende Wirkung um.

Schülke ärgert sich zudem über die Kontrollbürokratie: Der Zoll ist für die Überwachung der Löhne zuständig, bei ihr standen die Beamten zuletzt morgens um sieben Uhr vor der Tür, um Lohnzettel zu überprüfen, andere berichten von Kontrollen auf offener Straße. Schülke fühlt sich kriminalisiert: „Wir fürchten um unser Ansehen.“ Sie deutet den Mindestlohn als politische Maßnahme zur Beruhigung der Gemüter der Tarifpartner.

Denn der Mindestlohn muss in der Pflegebranche wirkungslos bleiben, gelten hier doch nur eingeschränkt Marktmechanismen. Alle Leistungen bis zum Deckelungsbetrag von 440 Euro pro Monat in der niedrigsten Stufe trägt die Pflegeversicherung. Würden per Gesetz die Löhne erhöht, stiegen auch die Kosten. Der Gesetzgeber müsste dann den Pflegebetrag erhöhen und damit die Lohnerhöhung letztlich selbst tragen. Deshalb wird die Lohngrenze so niedrig angesetzt, dass sie als politisches Signal wirkt, aber keine realen Folgen hat.

Nimmt man die Erfahrungen aus dem Elektrohandwerk und der Pflegebranche zusammen, offenbaren sich zwei so typische, wie unterschiedliche Spuren, die der Mindestlohn in den 14 Jahren seit der ersten Festschreibung im Baugewerbe in der deutschen Wirtschaft hinterlassen hat. Wie im Elektrohandwerk wurde der Lohnsatz in den meisten Branchen so niedrig angesetzt, dass negative Arbeitsmarkteffekte innerhalb Deutschlands größtenteils wohl ausgeblieben sind. Gerade dadurch hat der Lohn jedoch, wie die Pflegebranche zeigt, eine unerwünschte Nebenwirkung ausgelöst: Die Teilung in Mindestlohnbranchen und freie Branchen hat dem Image ersterer einen schweren Schaden zugefügt.

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