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Arbeitsmarkt Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist viel höher als offiziell ausgewiesen

Warum eigentlich lügt die Arbeitslosenstatistik? Eine Analyse von WirtschaftsWoche-Redakteur Rolf Ackermann.

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Frank Jürgen Weise, Chef der Quelle: dpa

Frank-Jürgen Weise ist ein faktenorientierter Manager und alles andere als ein Schaumschläger. Doch als der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) Anfang Januar die Arbeitsmarktzahlen für 2007 vortrug, sprach sogar er in historischen Dimensionen: Im Schnitt waren im vergangenen Jahr 3 776 000 Menschen ohne Arbeit, rund 711 000 weniger als 2006: „Der größte Rückgang seit Bestehen der Bundesrepublik“, triumphierte Weise. Wenn er am kommenden Donnerstag die Arbeitslosenzahlen für den Monat Januar verkündet, wird auch das wohl wieder eine frohe Botschaft sein: Trotz der finsteren Wolken am Konjunkturhimmel planen viele Unternehmen derzeit weiter, Mitarbeiter einzustellen, und die Zahl der offenen Stellen steigt.

Und doch will die Arbeitsmarkt-Euphorie der Statistiker nicht zur Stimmung der Menschen im Land passen. Sicher, viele zuvor Arbeitslose haben Jobs gefunden. Doch werden die Menschen das Gefühl nicht los, dass ein echter Aufbruch anders aussieht – und für diese Diskrepanz zwischen statistischer und gefühlter Wirklichkeit trägt die offizielle Statistik eine Teilschuld. Das wahre, volkswirtschaftlich relevante Ausmaß der Unterbeschäftigung in Deutschland ist nämlich deutlich höher als das, was die BA monatlich errechnet . So erscheinen zahlreiche Arbeitslose nicht in der Statistik, die gerade eine staatliche Weiterbildungsmaßnahme durchlaufen oder einen der rund 300 000 Ein-Euro-Jobs ergattert haben. Rechnet man alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zusammen, die die Statistik entlasten, summiert sich dieser Effekt auf fast eine Million – so viele Menschen, die eigentlich arbeitslos sind, erscheinen nicht in der Statistik.

Hinzu kommt: Nach wie vor verschleiert die unselige Praxis, Ältere lange vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter von 65 Jahren aus dem Arbeitsmarkt hinauszukomplimentieren, das wahre Ausmaß der Unterbeschäftigung. Nach Schätzung der Stiftung Marktwirtschaft fallen so derzeit fast eine halbe Million Menschen aus der Statistik heraus. Und der Gesetzgeber tut alles dafür, dass es künftig nicht weniger werden: Zwar ist die sogenannte 58er-Regelung ausgelaufen, nach der Arbeitnehmer über 58 Jahren eine Erklärung abgeben konnten, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen – und dann nicht mehr als arbeitslos gezählt wurden (siehe Seite 40). Dafür soll aber künftig jeder Arbeitslosengeld-II-Bezieher über 58, der ein Jahr lang keine Stelle angeboten bekommt, automatisch aus der Statistik herausfallen.

Schließlich müssen zum Heer der Arbeitslosen auch noch die vielen Entmutigten dazuge-rechnet werden, die sich zwar nicht arbeitslos melden, bei günstigerer Arbeitsmarktlage aber gerne arbeiten würden. Dass diese sogenannte „stille Reserve“ noch immer beträchtlich ist, zeigt schon der Vergleich mit dem letzten Aufschwung, der Anfang des Jahrtausends mit dem Platzen der Dotcom-Blase endete: Damals nahm das Angebot an Arbeitskräften um eine halbe Million stärker zu als dieses Mal, rechnet der Chefvolkswirt des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Dirk Hierschel, vor. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung taxiert die stille Reserve denn auch auf rund 700 000 Menschen.

Rechnet man das alles zusammen, liegt die wahre Arbeitslosigkeit nicht bei 3,4 Millionen, sondern eher bei 5,5 Millionen – und die wahre Arbeitslosenquote bei beängstigenden 12,5 statt bei 8,1 Prozent, wie von der offiziellen Statistik ausgewiesen. Ein schwacher Trost: Einige der rund 200 000 Arbeitslosen, die sich mit finanzieller Unterstützung der BA selbstständig gemacht haben, dürften auch nach Auslaufen der Subvention eine wirtschaftliche Zukunft haben. Wie viele, vermag freilich niemand zu sagen. Klar ist aber: Selbst wenn die Rechnung um solche Unwägbarkeiten bereinigt werden könnte – die wahre Arbeitslosenzahl liegt noch immer beängstigend hoch. Das sollte uns daran erinnern, dass es noch eine ganze Menge zu tun gibt – auch wenn uns BA-Chef Weise am Donnerstag wieder blendende Zahlen vorlegt.

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