Als Tom seinen ersten Fachkongress besuchte, war er genau drei Wochen alt. Man darf also bezweifeln, dass er sich wirklich für die Neuerungen im Insolvenzrecht begeisterte. Was Tom aber vermutlich interessierte, war die Frage, wie Mama es schaffen würde, ihn zwischen lauter Damen und Herren in dunklen Anzügen zu stillen. Mama war da pragmatisch. Sie hatte im Kongresshotel ein Zimmer gebucht und zog sich mit Tom zurück, wenn der lautstark Hunger beklagte. Und Papa war schließlich auch da, um mal den Kinderwagen um den Block zu schieben.
Die Wirtschaftsjuristin ist eine von 27 Insolvenzverwaltern der Kanzlei Brinkmann & Partner. In der Dependance Hannover sitzt sie in der Chefetage, und inzwischen ist das auch wieder wörtlich zu nehmen. Tom ist nun vier Monate alt, und einmal pro Woche kommt Zekira Fuest ins Büro. Ihr Sohn bleibt an diesem Tag beim Vater, der dann den heimischen Schreibtisch nutzt. Sofern Tom das zulässt: „Wenn unser Sohn wach ist, wird gespielt. Wir arbeiten, wenn er schläft.“ Sie will Tom beschützt aufwachsen sehen; dazu gehört die Absprache, dass sein echter Vorname nicht verraten wird.
Eine lange Auszeit kann und will Zekira Fuest sich nicht leisten. Erstens liebt sie ihren Job. Zweitens gibt es auch noch einen nüchternen Grund: Wer ausdauernd fortbleibt, den bestellt das Gericht vielleicht nicht mehr als Insolvenzverwalterin. Im nächsten Jahr möchte die 35-Jährige wieder richtig einsteigen. Wenn nur die Sache mit der Kinderbetreuung nicht wäre.
In Niedersachsen tun Mütter gut daran, schon während der Schwangerschaft einen Kindergartenplatz für ihr Ungeborenes zu suchen. Auch Zekira Fuest hatte bei der Tagesstätte neben ihrer Kanzlei angeklopft, als Tom noch in ihrem Bauch strampelte. „Man muss sich bei mindestens fünf Kitas gleichzeitig anmelden“, erzählt sie. Doch bislang hagelte es nur Absagen.
In Deutschland ist die Kinderbetreuung schwach – und das macht Müttern das Leben schwer, die nach der Babypause in ihren Job zurückkehren wollen. Nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums fehlen bis zu 160 000 Betreuungsplätze für unter Dreijährige. Von August 2013 an gilt zwar der Rechtsanspruch auf einen Platz, aber niemand glaubt, dass er erfüllt wird.
Geht nach hinten los
Die deutsche Familienpolitik gilt als Paradoxon. Kaum ein Land der Welt gibt pro Kopf mehr Geld für Eltern und Kinder aus. Insgesamt sind es jährlich rund 200 Milliarden Euro. Aber niemand würde deshalb glauben, dass Deutschland ein Familienparadies ist. Ein Mekka für berufstätige Mütter. Oder besonders kinderreich. Nur an einer Stelle fruchtet die Politik: Sie hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern.
Sechs Millionen von ihnen, zwischen 15 und 65 Jahre alt, gehen keinem Beruf nach. Und nicht alle führen ein begeistertes Dasein als Hausfrau. Manche haben schlicht ausgerechnet, dass sich ein Job für sie nicht lohnt. Dafür sorgt Vater Staat: Das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung in den gesetzlichen Krankenkassen belohnen das Modell der Alleinverdienerehe – und als Ernährer gilt in der Regel der Mann. Die steuerliche Besserstellung von Minijobs hält Frauen in kleinen Arbeitsverträgen, weil der Fiskus Mehrarbeit bestraft. Und während die Koalition mehr als eine Milliarde Euro für das neue Betreuungsgeld ausgeben will, fehlen Mittel für Kitaplätze. Was gesellschaftspolitisch irgendwann gut gemeint gewesen sein mag, geht auf dem Arbeitsmarkt nach hinten los.
Subventionen für das Private
Experten von den fünf Wirtschaftsweisen bis zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beklagen die Fehlanreize seit Jahren. Doch nie waren die Folgen fataler als heute: Nach offiziellen Schätzungen fehlen bis 2025 im schlechtesten Fall rund 6,5 Millionen Erwerbspersonen. Niemand wäre schneller zu aktivieren als die Frauen. Es wäre ein Anfang, den Müttern unter ihnen die Kinderbetreuung zu erleichtern.
Das hält die Bundesregierung indes nicht davon ab, das umstrittene Betreuungsgeld einzuführen. 100 Euro und von 2014 an 150 Euro monatlich sollen Eltern dafür bekommen, dass sie ihren Nachwuchs nicht in eine staatliche Kita schicken. In bar, ginge es nach der CSU. Das böse Wort von der „Herdprämie“ hat sich im kollektiven Wortschatz durchgesetzt.
Es gibt Millionen gute Gründe für Eltern, aus dem Job auszusteigen und sich um den Nachwuchs zu kümmern. Wer bringt schon Kinder zur Welt, um sie danach, Pardon, gleich outzusourcen? Dass der Staat diese private Lebensentscheidung aber subventionieren will, sorgt in der Ökonomie für Kopfschütteln. Klaus Zimmermann, Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit, beklagt den „Rückfall in die Steinzeit der Familienpolitik“.
Vor allem die Wirtschaft empört sich über das Betreuungsgeld. „Das Thema regt mich wirklich auf!“, bekennt Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Ordnungspolitisch ist kaum einzusehen, warum der Staat eine Belohnung an jene verteilt, die öffentliche Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Oder warum die CSU auf Wahlfreiheit für Eltern pocht, die ihre Kinder zu Hause erziehen, obwohl es in vielen Ländern schon deshalb keine freie Wahl für Mütter und Väter gibt, weil es an Kitas und Tagesmüttern mangelt. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), empfiehlt, „auf das Projekt zu verzichten und das Geld in Bildung und den Ausbau der Kinderbetreuung zu investieren“. Würde es am Ende zwei Milliarden Euro jährlich kosten, wie es das Bundesfinanzministerium fürchtet, könnte man mit dieser Summe die laufenden Kosten von 200 000 Kitaplätzen zahlen, schätzt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
So ist das Betreuungsgeld symptomatisch für die Summe an Fehlanreizen. Die weibliche Erwerbstätigkeit in Deutschland ist niedrig, nur 70 Prozent der Frauen gehen einem Job nach. Und knapp die Hälfte von ihnen, rund 46 Prozent, arbeitet in Teilzeit – bei den Männern sind es nur neun Prozent. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) konstatiert, dass man die Frauenerwerbstätigkeit nur ein wenig erhöhen müsse, um den Großteil des Fachkräftemangels zu vermeiden.
Umfragen zeigen, dass viele Frauen gern etwas mehr arbeiten würden. Allerdings schreckt viele die plakative Wirkung des Ehegattensplittings ab. Auch für die Unternehmen ist das ein Problem. Daher schimpft auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt gern über die unglückselige Kombination von Steuerklasse III und V.
Thomas Kranz kann da nur zustimmend nicken. Zusammen mit seiner Frau Hildegard betreibt er ein Ingenieurbüro im westfälischen Oelde. Ihre Statiker haben sich auf Industriebauten spezialisiert, vor allem auf Silos in Zementwerken. Dafür braucht man echte Experten. „Unser größtes Kapital sind unsere Mitarbeiter“, sagt Kranz. Spätestens an dieser Stelle sollte man besser schreiben: die Mitarbeiterinnen.
17 Beschäftigte zählt das Unternehmen, 14 davon sind Frauen. Die meisten arbeiten schon lang im Unternehmen. Für das Ingenieurbüro ist das überlebenswichtig. Schon deshalb, weil es ein Mittelständler in einem Städtchen, in dem die Straßen nicht ohne Grund „Auf dem Felde“ oder „Im Nebel“ heißen, etwas schwer hat, High Potentials aus den Metropolen abzuwerben. „Wir stolpern uns einen ab, um unsere Mitarbeiterinnen zu halten“, sagt Kranz.
Allerdings gibt es da ein wiederkehrendes Phänomen: Wenn die Mitarbeiterinnen Babys bekommen, steigen sie erst einmal aus dem Job aus und irgendwann in Teilzeit wieder ein. Dafür hat Kranz als Vater zweier Kinder Verständnis. Doch ihn ärgert, wenn ihm seine Ingenieurinnen nach der Babypause für immer abhandenkommen. Daran, glaubt Kranz, trage der Finanzminister eine Mitschuld.
Wut auf den Finanzminister
Beim Blick auf die Lohnabrechnung von Nicole Kottenstede beispielsweise überfiel den Chef vor einiger Zeit maßlose Empörung. Die Hochbautechnikerin war acht Monate nach der Geburt ihres Sohnes wieder in den Job eingestiegen. Um den kleinen Henry kümmerte sich die Oma, der Chef richtete Kottenstede ein Homeoffice ein. Irgendwann stockte sie ihre Arbeitszeit von 8 auf 12 Stunden wöchentlich auf. Doch weil sie in der ungünstigen Steuerklasse V steckte, sank ihr Netto-Stundenlohn plötzlich von 13 auf 8 Euro.
„Der erste Blick auf die Gehaltsabrechnung war demotivierend. Als Bautechnikerin sollte ich einen höheren Stundenlohn als eine Putzfrau bekommen“, schimpft Kottenstede. Da tröstete die Aussicht wenig, dass der Fiskus das Zuviel an Steuern bei der Veranlagung am Jahresende wieder ausgleicht. Denn der Nachteil in Steuerklasse V ist beim Splitting für die Frauen vor allem ein optisches Problem, allerdings eines, das demotivierend ist. Auch Kolleginnen kennen diesen Schock. Bauingenieurin Sonja Hensel hat vor sieben Jahren eine Babypause eingelegt: „Der Wiedereinstieg war ärgerlich. Durch das Splitting sah mein Nettogehalt geschmälert aus.“
Der Steuerkniff gehört zu den umstrittensten Maßnahmen der Familienpolitik. Es wurde im Jahr 1951 eingeführt, um die Abzocke der Ehe zu beenden. Zuvor hatte das Finanzamt die Einkommen von Ehepartnern schlicht addiert und dann besteuert. Das führte durch die Progression aber dazu, dass eine Hochzeit die Steuerlast für das Paar erhöhte. Dagegen hatte das Verfassungsgericht sein Veto eingelegt.
Seither gilt das Splitting. Und wo die Ehe zuvor diskriminiert wurde, wird sie nun großzügig bevorzugt, sobald Gatte und Gattin sich zu der Steuerklassenkombination III und V durchringen. Ihre Einkommen werden addiert, wieder halbiert und erst dann besteuert. So sinkt die Progression bei der Steuer. Den Schutz der Ehe schreibt auch das Grundgesetz fest. Allerdings sagt die Verfassung nichts darüber, dass der Staat vor allem die Alleinverdienerehe fördern müsse. Denn der Splittingvorteil ist am größten, wenn ein Partner nicht oder nur wenig arbeitet. Meist ist das die Frau. Sie steckt in der Regel in Steuerklasse V, in der die Abzüge besonders heftig ausfallen.
Problematische Steuerklassen
Selbst Familienministerin Kristina Schröder räumt ein, dass die Wahl der Steuerklassen „problematisch“ sei: „Sie führen meist dazu, dass Frauen mit der ungünstigeren Steuerklasse frustriert sind über die hohen Abzüge – selbst wenn sich das am Jahresende rechnerisch wieder ausgleicht.“ Sie empfiehlt daher das sogenannte Factoring-Verfahren, bei dem der Steueranteil auf beide Partner je nach Höhe des Gehalts aufgeteilt wird.
Wie sehr das Splitting die Steuerlast vieler Frauen auf der Lohnabrechnung hochtreibt, zeigen Beispielrechnungen, die die Nürnberger Datev für die WirtschaftsWoche angestellt hat. Mal angenommen, der Ehemann verdient 5000 Euro brutto und die Gattin nur 2000 brutto. Dann läge seine Abgabenquote bei 34,20 Prozent, die ihre trotz des niedrigeren Einkommens aber bei 45,69 Prozent. Ohne das Splitting in den Steuerklassen IV und IV ist das Verhältnis umgekehrt: Dann muss er 43,78 Prozent vom Brutto an den Staat abgeben, sie aber nur 31,72 Prozent. Unterm Strich freilich profitiert das Paar, weil er mehr gewinnt, als sie verliert.
Vor allem in Verbindung mit einem Minijob wirkt das Ehegattensplitting aber fatal. Wiedereinsteigerinnen, die oft nur wenige Stunden arbeiten, werden vom Fiskus sogar bestraft, wenn sie mehr verdienen wollen. Um im Datev-Rechenbeispiel zu bleiben: Bei einer 400-Euro-Beschäftigung bekäme eine Arbeitnehmerin also auch netto 400 Euro, da Minijobs für den Arbeitnehmer steuer- und abgabenfrei sind. Würde sie aber mehr arbeiten, um ihren Bruttoverdienst auf 500 Euro zu erhöhen, blieben ihr in Steuerklasse V netto nur 377,47 Euro – also weniger als zuvor. Ohne das Splitting wären es in Steuerklasse IV zumindest noch 427,78 Euro gewesen.
In ihrem „Wirtschaftsbericht Deutschland 2012“ fordert die OECD daher, das Splitting auf den Prüfstand zu stellen; auch IAB und das DIW sehen das so. Dabei geht es nicht nur um den Arbeitsmarkt, auch gesellschaftspolitisch gäbe es Gründe: Vor Jahrzehnten galt es als normal, dass Männer den Lebensunterhalt verdienten und ihre Frauen daheim die Kinder betreuten. Heute gibt es viele Ehen ohne Kinder und viele unverheiratete Paare mit Nachwuchs, von den veränderten Rollen ganz zu schweigen. Mit Familienförderung hat das Splitting nichts mehr zu tun.
Würde man auf eine Individualbesteuerung umstellen, könnte das nach DIW-Berechnungen bis zu 27 Milliarden Euro in die Kassen spülen. Hier aber beginnt das Problem: Ein Mehr an Steuereinnahmen bedeutet ein Mehr an Lasten für Alleinverdienerehen. Das wagt niemand in der Politik, schon gar nicht vor Bundestagswahlen.
Falsche Richtung
Dass Union und FDP die Regeln für Minijobs von 400 auf 450 Euro ausweiten wollen, macht Arbeitsmarktexperten fassungslos. „Es wäre besser, die Geringfügigkeitsgrenze zu senken, statt sie zu erhöhen. Die Anreize, die Minijobs setzen, führen systematisch in die falsche Richtung“, schimpft Holger Bonin vom Mannheimer ZEW.
Auch die fünf Wirtschaftsweisen forderten bereits, die Subventionierung kleiner Arbeitsverträge abzuschaffen, weil sie viele Frauen in einer Falle hielten. In Kombination mit 400-Euro-Jobs wendet sich nämlich selbst eine sozialpolitische Errungenschaft, die Mütter schützen soll, am Ende gegen viele Frauen selbst: Gemeint ist die beitragsfreie Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse des Ehemanns. „Im Grunde wirkt der Krankenversicherungsbeitrag wie eine 100-prozentige Steuer“, sagt Bonin. Sobald man mehr als 400 Euro verdient, muss man sich plötzlich selbst versichern. Frauen steckten daher in der „Zweitverdiener-Rolle“ fest. Claudia Hagemeyer hat das erlebt. Ihr Sohn Theo ist heute vier Jahre alt, im Februar stieg die Physiotherapeutin wieder in ihren Beruf ein. Auf einer Intensivstation kümmerte sie sich um ältere Patienten – ein Job auf 400-Euro-Basis. Hagemeyer verdiente damit nur ein Zubrot, den Hauptteil des Familieneinkommens steuert ihr Partner bei. „Mein Traum wäre es, so viel zu verdienen, dass auch mein Mann weniger arbeiten müsste. Und sein Traum wäre es, mehr Zeit für Theo zu haben.“
Um diesem Traum näher zu kommen, will Claudia Hagemeyer sich selbstständig machen – mit einer Praxis für Körpertherapie. Wenn da nur nicht ein Problem wäre: Ihr Mann zahlt in die gesetzliche Krankenkasse ein. Darüber ist auch Claudia Hagemeyer beitragsfrei abgesichert – solange sie in einem Minijob arbeitet. Sobald sie aber nur einen Cent mehr als 400 Euro verdient, muss sie in einem Privatkassen-Standardtarif rund 130 Euro für ihre Kranken- und 17 Euro für ihre Pflegeversicherung berappen.
Existenzgründung rentiert sich nicht immer
Mit einer Existenzgründungsberaterin hat Claudia Hagemeyer das einmal durchgerechnet: Bei einem monatlichen Gewinn von 375 Euro blieben ihr abzüglich Steuern vermutlich rund 263 Euro. Stiege der Gewinn auf 500 Euro, blieben ihr nach Abzug von Steuern und Krankenversicherung aber nur 203 Euro. Der Gewinn müsste anfangs sofort an 600 Euro heranreichen, damit sich die Existenzgründung mehr rentiert als ein 400-Euro-Job. Die
Hürde liegt in der Startphase also ziemlich hoch.
Dabei ist längst alles vorbereitet. Das große Dachzimmer hat Hagemeyer renoviert, die Wände in einem sonnigen Beigeton gestrichen und eine Liege für die künftigen Patienten aufgebaut.
Jetzt muss sich der Sprung nur lohnen.