
Dass Ansprüche auch sinken können, lernte Michael Pottel durch einen höflichen Brief vom Amt. Sein Arbeitslosengeld I werde bald auslaufen, deshalb möge der „sehr geehrte Herr Pottel“ bitte an einem Informationsseminar teilnehmen. Man wolle ihn auf die Grundsicherung vorbereiten. Und zwischen den Zeilen las er: auf den Abstieg.
Mit einem Dutzend anderer Arbeitsloser quetschte Michael Pottel sich wenige Tage später in einen stickigen Raum und hörte, was mit Hartz IV auf ihn zukommen könnte. Dass er zunächst den Großteil seines Ersparten aufbrauchen müsse. Dass er seine Lebensversicherung auflösen und den Kredit für sein Häuschen umschichten solle. Irgendwie hätte er das sogar noch verstanden. Doch als man ihm nahelegte, er müsse auch über die Sparbücher seiner Kinder nachdenken, die die Oma angelegt hatte, da machte irgendetwas klick. „Eher wäre ich jeden Tag für Geld Blutspenden gegangen als Hartz IV zu beantragen“, sagt Michael Pottel.

Knapp vorbei an Hartz IV
Am nächsten Tag rief er bei einer großen Zeitarbeitsagentur an, kaum zwei Wochen später hatte er einen Arbeitsvertrag in der Tasche. An Hartz IV ist er vorbeigeschlittert. Aber wäre die Angst nicht gewesen, hätte er sich damals, im Jahr 2010, vielleicht nie um einen Job in der Verleihbranche gekümmert. Und das wäre verdammt schade gewesen, findet Pottel heute. Der Job bei Randstad erwies sich als Glücksgriff: Sein letzter Entleihbetrieb hat Pottel inzwischen in ein ganz normales Arbeitsverhältnis übernommen. Seit Mai 2011 ist er Assistent der Geschäftsleitung bei einem Luftfrachtunternehmen am Münchner Flughafen. Mit eigenem Büro. Und inzwischen auch mit unbefristetem Vertrag.

Vielleicht kann kaum jemand besser nachempfinden als Michael Pottel, wie die Hartz-Reformen den Arbeitsmarkt verändert haben. Und wie sie die Mentalität prägen. Im Februar 2002 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Expertenrunde ins Leben gerufen, die den Sozialstaat von Grund auf umbauen und zukunftsfest machen sollte. Den damaligen Volkswagen-Personalvorstand Peter Hartz hatte er an ihre Spitze gesetzt. Vor genau zehn Jahren, am 16. August, übergab Hartz seinen Abschlussbericht an den Regierungschef. Auch Pottel kann sich noch genau an die Fernsehbilder erinnern. An den Manager mit dem weißen Haarschopf und dem festgetackerten Lächeln, der eine kleine CD in Händen hielt. Dass diese CD auch sein eigenes Leben einmal verändern würde, hätte er allerdings nicht gedacht.

Niedergang des Sozialstaates
Der Datenträger enthielt die Essenz für die mutigste und umstrittenste Sozialreform, die die Bundesrepublik je erlebt hat. Was die rot-grüne Regierung daraus machte, wurde unter dem Namen Hartz I bis IV bekannt und bildete den Kern der Agenda 2010. Fast alle Ökonomen preisen diese Reformen als Ursache des deutschen Jobwunders. Fast alle Gewerkschafter sehen in ihr den Niedergang des Sozialstaates.
Tatsächlich bedeuten die Hartz-Gesetze viele Zumutungen und vor allem diese eine: Künftig könne der Sozialstaat nicht mehr den Lebensstandard sichern, sondern nur noch den Lebensunterhalt. Die Unterstützung, die Langzeitarbeitslose vom Staat erhalten, orientiert sich nun nicht mehr an ihrem vorherigen Nettolohn, sondern nur noch an ihrer Bedürftigkeit. Arbeitslosen- und Sozialhilfe verschmolzen zur neuen Grundsicherung. Gleichzeitig erhöhte der Staat den Druck auf Arbeitslose, einen neuen Job anzunehmen. Als zumutbar gelten seither auch schlechter bezahlte Tätigkeiten. Eine pauschalierte Grundsicherung, mehr Anforderungen an Arbeitslose, aber auch eine bessere Vermittlung, eine deregulierte Zeitarbeitsbranche und ein Boom von befristeten und Minijobs – all das geht auf die Kommission zurück. Als die 15 Experten den Hartz-Bericht vorlegten, suchten 4,02 Millionen Menschen in Deutschland einen Job. Heute sind es 2,87 Millionen. Gleichzeitig kletterte die Zahl der Erwerbstätigen bis heute auf ein neues Rekordniveau von 41,7 Millionen.