Es ist durchaus ein denkbares Szenario: Über den Sommer lässt Russlands Präsident Wladimir Putin weiter auf niedrigem Niveau Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 liefern. Beginnen dann in Deutschland die kalten Monate, lässt er die Lieferungen doch ganz einstellen – und trifft das Land viel härter, da es das Gas dann nötiger braucht.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat bereits deutlich gemacht, dass im Fall einer Gasmangellage alle Verbraucher Energie sparen sollen. Wird das Gas knapp, könnten Unternehmen weniger herstellen oder müssten Produktionen ganz schließen. Das träfe auch die Beschäftigten. Intensität und Dauer der Krise? Ungewiss.
Das Szenario erinnert an die Coronapandemie: Restaurants, Veranstaltungssäle und Läden mussten kurzfristig schließen, zwischen Februar und April 2020 schnellte die Zahl der Kurzarbeitenden von knapp 134 000 auf fast sechs Millionen Menschen in die Höhe. Mit Folgen auch für die Bundesagentur für Arbeit (BA): Hatten zuvor 700 Expertinnen und Experten die entsprechenden Anträge bearbeitet, mussten innerhalb weniger Wochen 13.000 Beschäftigte diese Aufgabe fachfremd übernehmen – von Berufsberatern bis zu Sekretärinnen in der Zentrale in Nürnberg.
Warum? Kurzarbeit ist so ausgestaltet, dass sie auf einzelne Beschäftigte und deren individuelle Ansprüche zielt. Unternehmen müssen genau dokumentieren, wie viel Arbeit bei welchen Beschäftigten ausfällt – und die Arbeitsagentur alle Abrechnungen überprüfen. Noch-BA-Chef Detlef Scheele, der Ende Juli in den Ruhestand geht, erwartet, dass mehr als 2000 Menschen in der Behörde noch bis 2024 mit diesen Abschlussprüfungen bezogen auf die Pandemie beschäftigt sein werden.
Die Arbeitsagentur wünscht sich daher ein Instrument, „das bei länger anhaltenden Krisen ebenso schnell greift wie die Kurzarbeit, aber auf die aufwendige Einzelabrechnung verzichtet“, so beschrieb es Scheele. Das also einfacher, schneller und flexibler eingesetzt werden kann.
Weg vom Einzelfall
Ein Team von Forschenden des bei der BA-Führung verankerten Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat nun Ideen vorgelegt, wie Kurzarbeit bei massenhafter Nutzung verwaltet werden könnte. Der wichtigste Ansatzpunkt: weg von der Einzelfallprüfung.
Die Stärke der gültigen Regelung sei ihre Zielgenauigkeit, sagt Enzo Weber, einer der Autoren der Studie. „Wenn aber ein Restaurant wegen eines Lockdowns schließt oder ein Betrieb wegen Gasknappheit seinen Betrieb vollständig einstellen muss, ist Zielgenauigkeit weniger wichtig.“ Es gehe dabei um wirtschaftliche Schocks, die Betriebe oder Branchen umfassend betreffen. So könnte in einer von der Regierung festzulegenden Ausnahmesituation „mit außergewöhnlichen und gravierenden Auswirkungen“ die standardmäßige Einzelfallprüfung entfallen, heißt es im ersten Vorschlag – beispielsweise bei einem möglichen Gaslieferstopp. Die Studie spricht von „force majeure“, höherer Gewalt – keine Nullachtfünfzehn-Rezession, stellt Weber klar.
Tritt dieser im Vorfeld definierte Ausnahmefall ein, dürfte die BA dann auf die standardmäßige Einzelfallprüfung der Kurzarbeit verzichten und würde lediglich stichprobenhaft kontrollieren, um Missbrauch zu verhindern. Unternehmen, die während einer Pandemie nicht von verordneten Schließungen betroffen sind oder denen ein Gasmangel nicht zusetzt, könnten nur die regulären Kurzarbeitsregeln nutzen.
Ein echtes Kollektivinstrument
Als Variante wäre auch ein pauschaler Zuschuss denkbar, als Prozentsatz auf die betrieblichen Lohnkosten, wenn bei Unternehmen der Umsatz in vorher festgelegtem Ausmaß einbricht – das wäre ein echtes Kollektivinstrument, das nicht mehr beachtet, welche Arbeitsstunden bei welcher Person ausfallen. Der Zuschuss könnte ab einem bestimmten Umsatzausfall gewährt werden und der Prozentsatz ansteigen, wenn Unternehmen entsprechend mehr Umsatz entgeht.
Auch andere Ökonomen sehen die Grenzen der Kurzarbeit während flächendeckenden und lang andauernden Krisen. „Ein schnelleres und einfacheres Instrument wäre in dieser Ausnahmesituation wünschenswert gewesen“, sagt Christian Merkl, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Hürden zur Nutzung eines neuen Instruments müssten aber sehr hoch sein, warnt er: Es dürfte nicht in einer Situation wie der Finanzkrise 2009, oder allein bei Lieferkettenproblemen greifen. Dafür sei „das existierende Instrument der Kurzarbeit vollkommen ausreichend“.
Auch Weber und seine Mitautorin haben den Fokus daraufgelegt, dass das Prinzip Beschäftigungssicherung beibehalten werden muss. „Die Bedingung wäre, dass Entlassungen stark begrenzt werden“, sagt Weber. Die Vorteile – für die Arbeitsagentur ebenso wie für die Betriebe – liegen für die Studienmacher bei beiden Vorschlägen auf der Hand: weniger Personalaufwand auf der einen und weniger Unsicherheit und kürzere Wartezeiten auf der anderen Seite.
Ob es Änderungen geben wird? Die BA kann nur empfehlen und Vorschläge machen, entscheiden muss die Politik. Das ist auch der neuen Chefin der Arbeitsagentur, der ehemaligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles, klar. Zu viel Zeit mit den Überlegungen sollte sich die Bundesregierung jedenfalls besser nicht lassen. Enzo Weber sagt: „Das Risiko eines Gaslieferstopps besteht. Natürlich wird die nächste Krise wieder anders sein. Aber das könnte der erste Anwendungsfall sein.“
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