Arbeitsmarktanalyse "Geringqualifizierte werden immer weniger gesucht"

Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit erklärt, warum mehr Beschäftigung nicht die Arbeitslosigkeit senkt - und warum Langzeitarbeitslosigkeit ein Problem ist.

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In welchen Regionen tolle Jobs winken
Die Jobsuchmaschine Adzuna hat die größten 75 Städte in Deutschland anhand der Wettbewerbsintensität ihres Arbeitsmarktes beurteilt: Wie viele Bewerber kommen auf eine freie Stelle? Welche Berufsgruppen haben die besten Chancen, einen neuen Job zu finden - und vor allem wo? "Wir haben im Verlauf des letzten Jahres einige interessante Entwicklungen gesehen. Insgesamt hat sich die Quote von Bewerbern pro Arbeitsplatz bundesweit verbessert", sagt Matthias Lissner, Adzunas Country Manager für Deutschland. Quelle: dpa
Die stärksten BerufsgruppenIT und Beratung sind die Top-Branchen mit den meisten Stellenangeboten und weisen aktuell über 80.000 Stellenangebote aus. Technikerstellen, Buchhaltung & Finanzwesen sowie Gastronomie kommen zusammen ebenfalls auf 78.000 freie Jobs. Quelle: dpa
MünchenIn der bayerischen Landeshauptstadt kommen derzeit 1,5 Bewerber auf eine freie Stelle. Damit rangiert München zwar immer noch unter den Top-Standorten in Deutschland, zum attraktivsten lokalen Arbeitsmarkt Deutschlands reicht es aber nicht mehr. München liegt in der Wertung auf Platz fünf - einen Rang hinter Stuttgart, wo auf eine freie Stelle 1,4 Bewerber kommen. Quelle: dpa
Darmstadt und IngolstadtAuf den Plätzen zwei und drei liegen mit je 1,3 Bewerbern pro freier Stelle Ingolstadt und Darmstadt. Der Arbeitsmarkt in Darmstadt ist zudem interessant, da hier Stellen für Berater aktuell über zehn Prozent der freien Stellen ausmachen, was überdurchschnittlich hoch ist. Quelle: dpa
RegensburgBewerber sollten außerdem einen Blick auf Regensburg werfen. Dort ist die Anzahl von Bewerbern pro freier Stelle mit 1,2 bundesweit am niedrigsten. Im gesamten Bundesland Bayern kommen auf eine freie Stelle vier Arbeitslose. Quelle: dpa
Baden-WürttembergUnter den Bundesländern ist Baden-Württemberg führend: Dort kommen 3,8 Unbeschäftigte auf einen freien Arbeitsplatz. Platz zwei im Länderranking belegt der Stadtstaat Hamburg, wo es pro freier Stelle 3,9 mögliche Bewerber gibt. Quelle: dpa
Rheinland-PfalzAbsteiger unter den Bundesländern sind - im Vergleich zum Vorjahr - Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz. Die Wettbewerbsfähigkeit beider Länder ist in den letzten sechs Monaten gesunken. In Rheinland-Pfalz kommen auf eine freie Stelle 12,2 Bewerber (Platz neun), in Schleswig-Holstein sind es 12,8 (Platz zehn). Die rote Laterne hält Brandenburg, wo 27,2 Arbeitslose einer offenen Stelle gegenüberstehen. Dieses Verhältnis wird nur von einer Stadt übertroffen. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Weber, Sie erwarten in Ihrem neuen Konjunktur– und Arbeitsmarktbericht für 2015 ein BIP-Wachstum von 1,4 Prozent und einen Zuwachs bei den Erwerbstätigen um 270.000 Personen. Für nächstes Jahr prognostizieren Sie allerdings eine Stagnation bei der Arbeitslosigkeit. Wie kann das sein?

Enzo Weber: Dieses scheinbare Paradox ist nichts Neues. Seit Jahren lässt sich dieser Trend steigender Beschäftigung und stagnierender Arbeitslosigkeit beobachten. Der Widerspruch lässt sich aber erklären.

Und wie?

Die Beschäftigungszuwächse sind in Deutschland nicht mehr so eng an die Konjunktur gebunden. Die Konjunkturentwicklung war in den letzten Jahren schließlich auch eher schwach und trotzdem ist die Beschäftigung gestiegen. Damit geht einher, dass sich kein großer Einstellungsboom beobachten lässt. Vielmehr gibt es einfach weniger Entlassungen. Unternehmen möchten qualifizierte Leute halten. Ein weiterer Punkt betrifft die Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Menschen, die zum Beispiel Weiterbildungsmaßnahmen absolvieren, gelten nicht als arbeitslos. Die Teilnehmerzahl ist aber über Jahre gesunken. In der Summe war die Entwicklung also besser, als der Blick allein auf die Arbeitslosigkeit suggeriert.

Über Prof. Enzo Weber

Glaubt man dem OECD-Beschäftigungsausblick, dann versagt Deutschland vor allem bei der Lösung von Langzeitarbeitslosigkeit. Woran liegt das?

Es gibt in Deutschland strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Viele Arbeitslose haben keine abgeschlossene Ausbildung oder Schulbildung. Überdies gibt es Passungsprobleme: Arbeitslose passen mit ihrer Qualifikation oft nicht zu dem, was Arbeitgeber suchen. Geringqualifizierte etwa werden immer weniger gesucht. Aber man darf die OECD-Zahlen auch nicht überbewerten.

Wieso nicht?

Die internationale Vergleichbarkeit ist eingeschränkt. Zum Beispiel gelten Menschen, die in Deutschland als arbeitsfähig eingestuft werden, in anderen Ländern nicht mehr als arbeitsfähig - und damit auch nicht als arbeitslos. Obwohl die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland hoch ist, sind die Länderunterschiede nicht so groß wie es die OECD-Zahlen suggerieren.

Woher kommen die vielen neuen Erwerbstätigen? Aus der stillen Reserve – wie Hausfrauen, Rentner, Studenten – oder aus dem Ausland?

Es gibt zwar eine steigende Erwerbsbeteiligung vor allem von Frauen und Älteren, aber der Großteil des Zuwachses kommt aus dem Ausland. 2015 erwarten wir eine Nettozuwanderung von 450.000 Personen. Wenn man den gegenläufigen Trend der demografischen Entwicklung einbezieht, lässt sich immer noch eine Zunahme des Erwerbspersonenpotenzials um 120.000 Personen prognostizieren. Das bedeutet einen nie dagewesenen Wert des Erwerbspersonenpotenzials in Deutschland von 45,87 Millionen Personen.

Die Arbeitslosigkeit in einigen OECD-Ländern

Trotzdem beklagen viele Unternehmen hierzulande einen steigenden Fachkräftemangel. Wie kann das sein?

Einen flächendeckenden Fachkräftemangel sehen wir nicht. In bestimmten Berufsgruppen und Regionen beobachten wir aber durchaus Engpässe. Zum Beispiel ist Baden-Württemberg stärker betroffen oder es fehlen in Bereichen wie der Elektrotechnik und der Gesundheitsbranche qualifizierte Menschen. Engpässe gibt es, aber es ist ein sektoren- und regionenspezifisches Problem. Und auch gerade weil sich Unternehmen Sorgen um einen Fachkräftemangel machen, sichern sie sich qualifizierte Arbeitnehmer. Die Knappheit von Arbeitskräften führt dazu, dass Unternehmen auch dann Beschäftigung aufbauen, wenn die aktuelle Konjunkturlage es eigentlich nicht zwingend erfordert. Das Phänomen lässt sich seit Jahren beobachten. 

Europa ist nur bedingt wettbewerbsfähig
Ein Mann trägt eine griechische Flagge Quelle: dpa
ItalienAuch Italien büßt zwei Plätze ein und fällt von Rang 44 auf Rang 46. Die Studienleiter kritisieren vor allem das Finanz- und Justizsystem. Die Abgaben seien zu hoch und Verfahren viel zu langwierig und intransparent. Lediglich bei der Produktivität und mit seiner Infrastruktur liegt der Stiefelstaat im Mittelfeld. Ein wenig besser macht es ... Quelle: REUTERS
Ein Mann schwenkt eine portugiesische Flagge Quelle: AP
Stierkampf Quelle: dpa
Eine Frau hält eine Fahne mit einer französischen Flagge in der Hand Quelle: REUTERS
Das Parlamentsgebäude in Wien Quelle: dpa
Finnische Flagge Quelle: dpa

Haben wir bei den Zuziehenden ein hohes Qualifikationsniveau? Das könnte ja Sorgen gegenüber Fachkräftemangel zumindest lindern.

Das Qualifikationsniveau der Zuwanderung hat sich in Deutschland deutlich verbessert. So sind unter den Zuwanderern mehr Hochschulabsolventen als unter den in Deutschland Beschäftigten. Gerade bei Engpässen ist das für die deutsche Wirtschaft sehr wertvoll. Allerdings dürfte es schwer werden, die hohen Zuwanderungszahlen zu halten.

In Ihrer Studie haben Sie auch herausgefunden, dass die Anzahl der Personen, die einer Nebenbeschäftigung nachgehen, weiter zunimmt und ihr Anteil an den Beschäftigten bei 7,2 Prozent liegt. Ist dies dadurch zu erklären, dass ein Job bei vielen Menschen nicht mehr zum Lebensunterhalt reicht?

Das kann ein Grund sein. In der Regel sind aber die Nebenjobber gut qualifiziert und verdienen im ersten Job auch gut. Diese gut Qualifizierten nehmen dann einen Nebenjob als nettes Zubrot an. Sicherlich gibt es auch Beschäftigte, die aus wirtschaftlichen Gründen einen Nebenjob annehmen müssen. Aber die Mehrheit bei den Nebenjobbern ist das nicht. 

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