ARD-Talkshow Bundestagswahlkampf bei Anne Will

Die Gäste bei Anne Will redeten oft durcheinander, doch sie machten sie: Die Parteienlandschaft hierzulande ist bunt und kompliziert geworden. Ein Grünen-Veteran dürfte die Zahl seiner Fans weiter reduziert haben.

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Giovanni di Lorenzo (l-r), Chefredakteur «Die Zeit», Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen), Wolfgang Kubicki (FDP), Moderatorin Anne Will, Manuela Schwesig (SPD) und Volker Bouffier (CDU) bei der TV-Sendung «Anne Will» zum Thema «Kraftprobe in NRW - Weichenstellung für den Bund?». Quelle: dpa

Berlin Für die Fernsehberichterstattung am Sonntagabend verlief die Wahlstimmen-Auszählung ideal: Als nach dem Krimi Anne Wills Talkshow startete, war noch immer ungewiss, ob die Linke in den Düsseldorfer Landtag einzieht und welche Koalitionen überhaupt möglich sind. Insofern war es spannender als üblich, den Aussagen der Fernseh-Routiniers zuzuhören.

Manuela Schwesig, Bundesfamilienministerin von der SPD, wiederholte mit „Herzkammer“, „bitterer Abend“, „starke Frau“ (als Lob für die zurückgetretene Hannelore Kraft) und „Wutbürgerwahlkampf“ (als Vorwurf an die CDU) erst einmal alle Formulierungen, die auch schon andere SPD-Vertreter im Laufe des Wahlabends von sich gegeben hatten. Dass Landtagswahlen keine Bundestagswahlen sind, sagte sie ebenfalls – und rief für den heutigen Montag die Eröffnung des Bundestagswahlkampfs aus.

Und tatsächlich wurden in der Runde, in der drei ältere Haudegen der CDU, der Grünen und der FDP, aber keine Vertreter der AfD und der Linken saßen, bereits erste neue Bundestagswahlkampf-Strategien deutlich.

Grünen-Veteran Jürgen Trittin machte - nicht ohne sich im Grünen-Wahlerfolg vom vorangegangenen Sonntag in Schleswig-Holstein zu sonnen - in der Bildungspolitik „offensichtlich“ begangene „politische Fehler“ für den Misserfolg seiner Partei in Nordrhein-Westfalen verantwortlich.

Gern gab der ebenfalls eingeladene „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo weitere Ausblicke: SPD-Kanzlerkandidat Schulz könnte im September „dramatisch abschmieren“, sagte der Journalist. Unter anderem erklärte er das damit, dass die Bürger das wichtige Thema „Innere Sicherheit“ von Grünen und SPD nicht ernst genommen sähen. Als Beleg führte er Äußerungen anderer Grüner vom selben Wahlabend an.

Sogleich nahm Trittin dieses Thema auf, verwies darauf, dass die rot-rot-grüne Regierung in Berlin neue Polizisten einstelle, deren Stellen vorher gestrichen worden waren, und dass Niedersachsens rot-grüne Regierung terrorverdächtige Gefährder abgeschoben habe. Dagegen seien für die ausgebliebene Abschiebung des späteren Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger von der SPD und Bundesinnenminister Thomas de Maizière von der CDU gemeinsam verantwortlich.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier verkörperte bei Anne Will vor allem die CDU-Haltung: „Das ist ein Abend für uns zum Freuen, zum richtigen Freuen.“ Trittin hielt er das Thema Videoüberwachung vor. Diese Sicherheitsmaßnahme haben die Grünen in Berlin verhindert, während sie unter seiner Regierung in Hessen angewandt wird – bekanntlich einer schwarz-grünen Koalition.

Wolfgang Kubicki, mit der Schleswig-Holsteiner FDP vor einer Woche auch Gewinner, wollte sich eigentlich ebenfalls vor allem freuen. Doch geriet er in sichtlich schlechte Stimmung, als sein Sitznachbar Trittin einen Exkurs über „Realpolitik und Machtpolitik“ einschob: Kleine Parteien wie die Grünen oder die FDP hätten ja „mehr vom Kuchen“, wenn sie mit der kleineren der zur Auswahl stehenden zwei großen Parteien koalieren würden.

Das bezog sich auf Kiel, wo Grüne und FDP entweder mit der SPD oder der CDU koalieren müssen (falls keine Große Koalition gebildet wird). Trittins Argumentation war parteitaktisch in sich stimmig, allerdings weit entfernt von dem, was Politiker sonst an Wahlabenden zu sagen pflegen. Da entfuhr nicht nur Kubicki ein „Dieser Trittin ist unerträglich“. Auch in seiner eigenen Partei dürfte Trittin die Zahl seiner Fans weiter reduziert haben.

Es wurde wie so oft in Talkshows lange von mehreren Seiten zugleich geredet. Das Durchsetzungsvermögen, das Anne Will beim Unterbrechen der Herren Bouffier und Trittin am Muttertag mit Bezug auf ihre Mutter (die sich beschwert hatte, oft nichts zu verstehen) bewies, legte sie nicht immer an den Tag.

Und doch wurde deutlich, wie kompliziert die deutsche Parteienlandschaft Mitte 2017 geworden ist: schwarz-grün, rot-grün und rot-rot-grün, nun wohl wieder schwarz-gelb und entweder schwarz-gelb-grün oder rot-gelb-grün sind denkbar. Eigentlich müssen alle mit allen reden und „Schnittmengen ausloten“ (Will), außer mit der AfD, mit der alle ausdrücklich nicht koalieren wollen – weshalb ein Vertreter der AfD der Anne-Will-Runde gut getan hätte.

Manuela Schwesig kündigte an, dass die SPD „keine Koalitionen ausschließen, aber keinen Koalitionswahlkampf führen“ wolle. Das Dilemma, vor dem ihre Partei nun erst recht steht, trat ebenfalls zutage: Die einen (in diesem Fall di Lorenzo) sagen, gewinnen könne die SPD nur in der Mitte. Die anderen warnen: Wenn die SPD sich auf die Mitte fokussiere, habe sie „das Problem: Da sitzt schon Angela Merkel“. Diese kleine Provokation kam von Moderatorin Anne Will, die dieses Mittel gern öfter einsetzen könnte.

Schwesigs Antwort „Frau Merkel hat mit Sicherheit ihre Verdienste für die Vergangenheit, aber keine Idee für die Zukunft“ klang wiederum so, als stamme die Formulierung aus dem Drehbuch des Martin-Schulz-Wahlkampfs und wird wohl in den kommenden Monaten noch häufig zu hören sein. Der Bundestagswahlkampf hat begonnen und dürfte trotz der SPD-Niederlage am Sonntag noch spannend werden.

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