Dieser Wandel bedeutet für eine moderne demokratische Gesellschaft, in der „Leistung“ als einzige Rechtfertigung für sozialen Status akzeptiert wird, eine große Belastungsprobe des sozialen Friedens. Befeuert von den Verzerrungen der Schuldenkrise treten Gerechtigkeitsfragen immer stärker in den Vordergrund der politischen Willensbildung.
Die große Nachfrage nach „Gerechtigkeit“ wird bald möglicherweise auch Erbschaften erfassen und ihre Legitimation in Frage stellen. Die immer öfter bei Demonstrationen zu sehende Forderung „Reiche Eltern für alle!“, Bücher wie das von Wüllenweber, Forschungen wie die des Soziologen Jens Beckert („Erben in der Leistungsgesellschaft“) und der Ruf der „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“ nach einem erbschaftssteuerfinanzierten „Generationen-Soli“ sind erste Indizien für die Konflikte, die auf die Erbengesellschaft zukommen. Gleichzeitig steigt die Skepsis gegenüber der unbedingten Notwendigkeit weiteren Wirtschaftswachstums. Auch das dürfte Folgen für die Akzeptanz von Erbschaften haben: Warum sollen wir im Dienste des BIP-Wachstums weitere Schulden machen und immer schneller und länger arbeiten, wenn dessen Früchte vor allem den Erben großer Kapitalreichtümer zu Gute kommt? In dieser Frage steckt womöglich großer sozialer Sprengstoff der nahen Zukunft.
Das Problem ist natürlich nicht völlig neu. Die Existenz von Erbschaften war gerade für Liberale immer ein Dilemma. Denn ihre zentralen Normen wie Chancengleichheit, Leistungsprinzip und Wettbewerb vertragen sich nicht gut mit dem Erbrecht. Die Institution des Erbens ist streng genommen ein Überbleibsel aus der Vormoderne. Es widerspricht dem Versprechen der Aufklärung: Dass nämlich über den Erfolg in dieser Welt nicht durch die Geburt entschieden werde, sondern durch die eigenen Leistungen. Der liberale amerikanische Sozialreformer Orestes Brownson forderte daher zum Beispiel in den 1840er Jahren, dass der Staat alle Erbschaften einziehen solle, um alle jungen Menschen mit den gleichen Startbedingungen zu versorgen. Aber auch die ordoliberalen Ur-Väter Walter Eucken und Alexander Rüstow forderten radikale staatliche Eingriffe in Erbschaften. Auf sie kann sich die FDP mit ihren erbenfreundlichen Positionen also kaum berufen.
Die Empörung über die Zementierung sozialer Ungleichheit und ungleicher Startbedingungen durch großen Erbschaften wird bisher meist von einigen schlagkräftigen Argumenten entschärft und vor allem durch das Eigeninteresse der gesellschaftlich dominanten oberen Mittelschicht. Sie hat ein Interesse an der möglichst wenig besteuerten Vererbung ihrer vergleichsweise bescheidenen Vermögen. Die sind nicht so hoch, dass sie den Erben ein arbeitsfreies Leben ermöglichen, aber sie schaffen zumindest eine gewisse Sicherheit. Die Angst der Mittelschicht-Deutschen vor dem sozialen Abstieg ihrer Kinder ist derzeit größer als die Empörung über das unverhältnismäßige Wachstum der Vermögen und Erbschaften der reichsten 10 oder 1 Prozent. Das führte dazu, dass die Freibeträge für Erbschaften in den vergangenen Jahren angehoben wurden. Kinder von Erblassern zahlen für Häuser, die sie selbst bewohnen wollen und für Vermögen bis zu 400 000 Euro seit 2009 keine Erbschaftssteuer mehr, vorher lag der Freibetrag bei 205 000 Euro. Ehegatten und Lebenspartner zahlen erst ab 500.000 Euro.