Noch bevor am Wahlsonntag die ersten Zahlen über die Bildschirme flimmern, dürften zwischen München, Berlin und Düsseldorf die Telefondrähte geglüht haben. Spätestens um 16 Uhr wussten die Spitzenpolitiker anhand der Exit-Polls an den Wahllokalen schon, wohin die Reise geht. Die entscheidende Zahl für Gegner wie Unterstützer von Kanzlerkandidat Armin Laschet ist die Differenz zwischen Union und SPD. „Wenn Laschet in Schlagweite zu Scholz bleibt kann er sich im Spiel halten“, sagt ein führender CDU-Mann. „Ansonsten ist alles denkbar.“
Szenario 1: Es kommt auf den Abstand an
Es kursieren drei Versionen, wie die Nacht der langen Messer nach Schließung der Wahllokale ablaufen könnte: Im ersten Szenario wird unterstellt, dass die Union vier und mehr Prozentpunkte hinter der SPD landet. In diesem Fall würden sich Jens Spahn und Markus Söder verbünden und von Laschet verlangen, noch am Sonntag die Verantwortung für das Desaster zu übernehmen und sich zurückzuziehen.
Das CDU-Präsidium würde am Montag Laschet zwar bitten, für eine Übergangszeit noch Parteivorsitzender zu bleiben, ansonsten aber Raum für andere Führungsleute der Union zu lassen. Sollte eine Jamaika-Mehrheit trotz schwachem Unionsergebnis noch möglich sein, würden Söder, Spahn, Friedrich Merz und Norbert Röttgen die Führung bei eventuellen Koalitionsgesprächen übernehmen. Am Dienstag in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion würde dann Spahn für den Fraktionsvorsitz kandidieren, wobei es zu einer Kampfkandidatur kommen kann, weil der derzeitige Amtsinhaber Ralph Brinkhaus ebenfalls viel Rückhalt in der Fraktion besitzt und nicht einfach das Feld räumen würde. Ob es aber unter diesen Bedingungen gelingen kann, noch eine Jamaika-Koalition zu bilden erscheint äußerst fraglich
Szenario 2: Wagt Söder den Putsch in Berlin?
Das zweite Szenario geht von einem Ergebnis mit einer Differenz von einem bis drei Prozentpunkten Abstand zur SPD aus. CSU-Chef Söder, der am Sonntag nach Berlin fahren und dort mindestens zwei Tage bleiben will, könnte angesichts des Unmuts in der Union versucht sein, Laschet zum Rückzug zu drängen, damit aber am Widerstand der CDU-Führung im Präsidium am Montag scheitern. In der CDU sind die permanenten Störmanöver aus München mit wachsender Verstimmung registriert worden.
Söders Egotrip und seine offensichtliche Unfähigkeit, die Niederlage gegen Laschet zu akzeptieren und konstruktiv an dessen Wahlkampf mitzuwirken, hat manche in der CDU regelrecht wütend gemacht. „Darüber wird noch zu reden sein“, sagt ein Vorstandsmitglied, „und dann schauen wir uns auch einmal Söders Ergebnis in Bayern genau an“.
Auch wenn Söder mit seinem Putschversuch an der großen Schwesterpartei scheitert, bleibt offen, wie in diesem Szenario dann am Dienstag das Abstimmungsergebnis bei der Wahl zur Fraktionsspitze ausfallen würde. Die CSU-Abgeordneten dürften im Verhältnis zur CDU in der neuen Fraktion an Gewicht und Stimme gewinnen. Es kommt dann darauf an, ob Spahn sich trotz Unterstützungssignalen aus der CSU sicher genug fühlt, den Bruch mit Laschet zu riskieren und gegen ihn anzutreten – mit offenem Ende. Je dichter Laschet jedoch an Scholz liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit dieser Option.
Szenario 3: Entscheidung durch Briefwähler
Im dritten Szenario schließlich ist der Abstand der Union zur SPD so gering, dass Laschet ohne großen Widerspruch die Führung von Koalitionsgesprächen mit FDP und Grünen für sich beanspruchen kann. Ob er sich dann am Dienstag in der Fraktion auch zur Wahl stellt? Viel spricht dafür, denn er kann so ein gutes Ergebnis quasi erzwingen, weil er ein kräftiges Mandat der eigenen Leute braucht, um kraftvoll eine Jamaika-Option verhandeln zu können.
Es kommt somit auf wenige Prozentpunkte an. In den letzten Umfragen hat die Union aufgeholt und den Abstand zur SPD verringert. Das Laschet-Lager setzt darauf, dass viele Unionswähler trotz einer offenkundigen Unzufriedenheit mit dem Kanzlerkandidaten doch noch ihr Kreuz bei CDU und CSU machen. Auch von der hohen Briefwahlbeteiligung versprechen sich die Christdemokraten einiges; bislang schnitten die Konservativen dabei immer überdurchschnittlich gut ab. Doch allen Hoffnungen zum Trotz: Für Armin Laschet werden auch die Stunden nach der Wahl zur Nerven- und Machtprobe.
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