
Angesichts einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland fordern Gewerkschaften und Experten zügige Schritte gegen prekäre Beschäftigung. Fällige Steuern müssten zudem auch tatsächlich effektiv eingetrieben werden, sagte der Gießener Politikwissenschaftler und Armutsforscher Ernst-Ulrich Huster der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Dann könne das Vermögen etwas gerechter verteilt werden. Aktuelle Entwicklungen bei der Armut in Deutschland stellt der Paritätische Gesamtverband am Donnerstag mit einer Studie „Die zerklüftete Republik“ in Berlin vor.
Rund ein Fünftel der Deutschen lebt unterhalb der Armutsgrenze
„Deutschland ist ein reiches Land - im Schnitt werden hier über 30.000 Euro pro Jahr und Einwohner erwirtschaftet“, sagte Huster. „Doch acht Prozent der Bevölkerung sind völlig abgehängt, und zwischen 16 und 20 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze.“ Gleichzeitig würden die Reichen laut den offiziellen Statistiken immer reicher. „Die obersten zehn Prozent verfügen über rund 53 Prozent des Vermögen.“ Manche Berechnungen gingen von mehr als 60 Prozent aus.
Armutsgefährdung in Deutschland
Wer in Deutschland allein mit weniger als 979 Euro netto im Monat auskommen muss, gilt nach der EU-Statistik als armutsgefährdet. Bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 2056 Euro im Monat. Nach dieser Rechnung sind 13 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von Armut bedroht. Der Anteil an der Bevölkerung von rund 16 Prozent ist seit Jahren relativ stabil. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster warnt jedoch: „Etwa die Hälfte davon hat keine Chance mehr, da raus zu kommen.“ Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ergänzt: „Wir haben immer mehr Erwerbstätige, aber trotzdem schützt dies nicht mehr vor Armut.“
Die Statistiker sprechen von „Armutsgefährdung“ oder einem „relativen Armutsrisiko“. Nach der Definition der EU-Statistik ist von Armut bedroht, wer von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung seines Landes lebt. „Armut“ ist nach Ansicht des Armutsforschers Christian Arndt „ein Zeichen dafür, dass etwas Wesentliches zum Wohlergehen fehlt“. Dies betreffe aber nicht alle, die über ein Einkommen unterhalb der „Armutsrisikoschwelle“ verfügten. „So ist dies sicher nicht der Fall für einen Studierenden mit geringem Einkommen, kann aber sehr wohl für ein schwerwiegendes Problem für eine alleinstehende Rentnerin sein.“
Mit einer Armutsgefährdungsquote von 16,1 Prozent schneidet Deutschland 2013 um 0,6 Prozentpunkte besser ab als der Anteil aller EU-Länder zusammen. Allerdings fehlen für den exakten Mittelwert noch einige Zahlen, etwa die von Irland und Kroatien. Besonders hoch ist der Anteil der von Armut bedrohten Menschen in Griechenland (23,1 Prozent), Rumänien (22,4 Prozent) und Bulgarien (21,0 Prozent). Am niedrigsten ist das Armutsrisiko in der Tschechischen Republik (mit einem Anteil von 8,6 Prozent), Island (9,3 Prozent), den Niederlanden (10,4 Prozent) und Norwegen (10,9 Prozent).
„Armut ist immer noch weiblich“, sagt die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher. Frauen aller Altersgruppen sind stärker von Armut bedroht als Männer. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und Frauen im Rentenalter. Und: Fast 70 Prozent der Arbeitslosen sind armutsgefährdet. Nach Einschätzung von Armutsforscher Hans-Ulrich Huster haben auch Menschen mit Migrationshintergrund und alleinlebende junge Leute unter 30 Jahren ein erhöhtes Risiko.
Das Armutsrisiko hat nach Darstellung des Volkswirts und Armutsforschers Christian Arndt zwischen 1999 und 2005 stark zugenommen. Seitdem aber nicht mehr. In der seit 2008 erhobenen EU-Statistik stieg die Quote für Deutschland von 15,2 Prozent auf 16,1 Prozent. „Hier könnte man einerseits von einer Manifestation des Armutsrisikos sprechen. Die Botschaft ist aber die, dass das Armutsrisiko im Gegensatz zu einigen anderen Ländern nicht weiter zugenommen hat.“ Armutsforscher Hans-Ulrich Huster stellt fest: „Die Reichen werden reicher. Das Einkommen der Armen sinkt relativ gesehen zu den Einkommen der mittleren und oberen Einkommensbezieher.“
Der für 2015 geplante Mindestlohn ist nach Einschätzung des Sozialverbands VdK und des Paritätischen Wohlfahrtsverband ein richtiger Schritt. „8,50 Euro ist aber hart auf Kante genäht, das ist genau für einen Alleinlebenden die Armutsschwelle“, sagt der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster betont: „Nicht der Facharbeitermangel ist das Problem, sondern dass wir uns zu wenig darum kümmern, dass die Jugendlichen, die da sind, eine entsprechende Ausbildung bekommen.“
„Über 42 Millionen Menschen in Deutschland sind zwar beschäftigt - ein Rekord“, sagte Huster. Doch es gebe verbreitet Armut trotz Arbeit. Rund die Hälfte der Neubeschäftigten hätten zudem zeitlich befristete Arbeitsverträge.
Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied, sagte der dpa: „Wer Armut bekämpfen will, muss vor allem den Arbeitsmarkt aufräumen.“ Der gesetzliche Mindestlohn dürfe nicht mit dem Argument der Vermeidung von Bürokratie unterhöhlt werden. „Prekäre Arbeit wie Leiharbeit und der Missbrauch von Werkverträgen muss zurückgedrängt werden.“
Autobahn A40 ist die Armuts-Grenze in Deutschland
Huster erläuterte: „Die hohen Einkommen sind auf wenige Regionen verteilt, etwa die Regionen Hamburg, Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Wiesbaden und München.“ Er sagte: „Im Ruhrgebiet ist die Autobahn 40 die Trennlinie - südlich herrscht überwiegend Wohlstand, nördlich überdurchschnittlich viel Armut.“
Die Einkommensarmut in Deutschland
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Höhere Steuern sieht der Wissenschaftler nicht als Bedingung für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands an. „Vielmehr müssen die Steuern, die es gibt, auch eingezogen werden“, sagte er. „Reichere Bundesländer machen auch Wirtschaftsförderung durch Finanzämter und statten diese mit zu wenigen Steuerprüfern aus.“
Huster warnte vor den Folgen mangelnder Armutsbekämpfung: „Wir leben nicht in der Sahelzone. Aber es besteht das konkrete Risiko, dass auch in Deutschland immer mehr junge Menschen ohne Hoffnung nachwachsen. Viele kennen gar keine geregelte Beschäftigung, rutschen in Kriminalität ab oder gefährden sich durch Sucht.“
Buntenbach forderte gezielte Sozialleistungen für armutsgefährdete Kinder - auch wegen gestiegener Mieten. Gut sei, dass die Bundesregierung eine Wohngeldreform angehe. Wichtig sei zudem die anstehende Neufestsetzung von steuerlichen Kinderfreibeträgen und Kindergeld. „Jedes Kind ist gleich viel wert - das sollte der Staat beachten“, sagte sie. „Reichere Eltern durch die Freibeträge überproportional besserzustellen ist ungerecht und in Zeiten knapper Kassen erst recht nicht vertretbar.“
Bereits in seinem Jahresgutachten 2014 hatte der Paritätische Gesamtverband wachsende soziale Spaltung in Deutschland beklagt.