Absolute Armut abzuschaffen und relative Armut durch Umverteilung einzuhegen, konnte in den westlichen Ländern nur unter zwei Bedingungen gelingen. Die erste war anhaltendes Wirtschaftswachstum, das Umverteilung ohne große Verteilungskämpfe möglich machte.
Noch wichtiger und fundamentaler ist aber die Begrenzung der Solidaritätsleistungen auf eine klar definierte Gruppe. Der Sozialstaat kann - banale aber derzeit allgemein ignorierte Tatsache - nur funktionieren, wenn seine Geltung auf die Solidargemeinschaft begrenzt ist. Die ist auf absehbare Zeit identisch mit dem als Sozialstaat organisierten Nationalstaat. Sozialstaat und völlige Offenheit für Zuwanderung sind unvereinbar.
Der Sozialstaat ist eine Genossenschaft, eine Allmende. Je größer dessen Leistungsfähigkeit, desto attraktiver wird er natürlich für außenstehende Nicht-Genossen. Wenn ihnen die Kassen geöffnet werden, droht das, was der Ökonom Garret Hardin die „tragedy of the commons“, die „Tragödie der Allmende“ nannte, die Zerstörung der Genossenschaft durch Überforderung ihrer Leistungsfähigkeit.
In Deutschland wird die Sorge vor dieser Tragödie verdrängt. Die derzeit ausnahmsweise besonders ergiebigen Steuereinnahmen erlauben es – noch – an dem riesigen Elefanten mitten im Raum des nationalen Armutsdiskurses geflissentlich vorbeizuschauen. So ziehen Sozialpolitiker mit dem Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ in die Wahlschlacht und Gesellschaftsverbesserer fordern ein staatlich finanziertes bedingungsloses Grundeinkommen als Heilmittel für die heraufziehende digitalisierte Gesellschaft. Gleichzeitig heißen viele Armutszuwanderung, also Leistungsempfänger de facto unbegrenzt willkommen.
Wer ernsthaft und über den Wahltag hinaus relative Armut innerhalb Deutschlands durch Sozialpolitik einhegen und damit den inneren Frieden im Lande bewahren will, kann den Elefanten aber nicht dauerhaft ignorieren. An der unangenehmen Frage: „Wer kann Leistungsempfänger sein?“ kommt man auf die Dauer nicht vorbei.
Die naheliegende Antwort: „Jeder, der in Deutschland lebt“ ist aber in einer Welt mit Milliarden potentiellen Hilfsempfängern nur dann nachhaltig umsetzbar, wenn nicht gleichzeitig jeder Mensch, der in Deutschland wohnen und Leistungen empfangen will, willkommen geheißen wird. Zwischen Staatsbürgern und Ausländern zu unterscheiden, ist in einem Sozialstaat entgegen eines neuerdings verbreiteten Vorurteils daher kein Indiz für eine nationalistische Gesinnung, sondern eine unvermeidbare Notwendigkeit. Dass die Solidargemeinschaft nicht mit einer ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ zu verwechseln ist, sollte selbstverständlich sein.
Die Bekämpfung der relativen Armut in Deutschland ist nur dann eine sinnvolle und beherrschbare Aufgabe, wenn man sie von dem Bemühen um Linderung der absoluten Armut im Rest der Welt trennt. Eine Politik, die das Dilemma zwischen universellen Menschenrechten einerseits und notwendiger Begrenzung des eigenen Sozialstaats andererseits nicht aushält, kann sich vielleicht für eine Weile hinter gesinnungsethischen Parolen verstecken. Von Dauer kann so eine Politik der strukturellen Überforderung aber nicht sein. Sie wird die Armut in der großen weiten Welt sicher nicht dadurch lindern, dass sie das interne System der Armutsbekämpfung im kleinen Deutschland aufsprengt.