Armut in Deutschland und in der Welt Warum wir ehrlicher über Armut reden müssen

Undifferenziert und sentimental wird über Armut in Deutschland gesprochen. Wenn der Sozialstaat und damit der innere Frieden langfristig bewahrt bleiben sollen, muss damit endlich Schluss sein.

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Armut: Familie Triantoro aus Jakarta Quelle: Getty Images

Nicht nur, aber vor allem wenn gerade ein „Armutsbericht“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erschienen ist, kann man dem Thema kaum entkommen. Und wenn mal eben keine neue Studie zur Armut erschienen ist, zum Beispiel kürzlich über das besonders hohe Armutsrisiko von Frauen, dann kann man Reportagen lesen, zum Beispiel über einen pleite gegangenen Ingenieur, der sich keinen Biergarten-Besuch mehr leisten kann.

Der Armutsdiskurs in Deutschland ist weiten Teils durch moralinsauren Gesinnungseifer oder Sentimentalität verstellt. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert die Bundesarbeitsministerin, wie die WirtschaftsWoche exklusiv berichtet. Andrea Nahles (SPD) will den offiziellen „Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung, der eigentlich schon im Februar hätte erscheinen sollen, noch mit persönlichen Eindrücken aus einem Workshop „mit Armen“ anreichern. Dadurch wird sich sein Erscheinen noch einige Monate verzögern. Im September finden bekanntlich Bundestagswahlen statt, die die SPD mit der Forderung nach "sozialer Gerechtigkeit" gewinnen will.

Auf Differenzierung und sachliche Definition von Armut legen diejenigen, die Emotionen zur Mobilisierung von Wählern für die eigene Politik, oder von Geldgebern für karitative Unternehmungen nutzen, wenig Wert. Andererseits kann man sicher sein, dass nach jeder größeren Studie über Armut in Deutschland eine Grundsatzkritik einsetzt: Das, was in den Studien analysiert werde, sei eigentlich keine Armut.

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Und es stimmt schon: Die Armen in den europäischen Städten des 19. Jahrhunderts, deren Los Charles Dickens in seinen Romanen beschrieb, und die Armen in den gegenwärtigen Slums von Afrika sind mit den Menschen in Deutschland, die Walter Wüllenweber in seinem Buch „Die Asozialen“ vorstellt, nicht zu vergleichen. Für letztere ist das Leben im Gegensatz zu den ersteren kein alltäglicher Kampf ums Überleben. Dafür sorgen die Segnungen des Sozialstaates. Die Statistiker und Sozialwissenschaftler, die solche Studien erstellen, schreiben daher auch in der Regel nur von „drohender Armut“ bei Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens - für Alleinstehende liegt die Schwelle damit bei 917 Euro im Monat, für Familien mit zwei Kindern bei 1926 Euro. Nur wird das Adjektiv „drohend“ von den Armutsalarmisten meist weggelassen.

Man kann allerdings durchaus auch in Deutschland von und über Armut sprechen, wie der Sozialwissenschaftler Philipp Lepenies in seinem kürzlich erschienenen höchst lesenswerten Bändchen „Armut“ in der Reihe „C.H. Beck-Wissen“ klarstellt. Allerdings ist die Voraussetzung für einen sinnvollen Armutsdiskurs dann eine Klarstellung dessen, was man darunter versteht. Lepenies nimmt entschieden Partei für den Capability-Ansatz von Amartya Sen: Armut definiert als Mangel an Verwirklichungschancen.

Grundsätzlich sollte man unterscheiden zwischen der absoluten Armut derer, die gezwungen sind, einen alltäglichen Kampf ums physische Überleben zu führen, und einer sekundären oder relativen Armut. Zu dieser Unterscheidung absoluter und relativer Armut, kommt die Notwendigkeit der Unterscheidung von Armut innerhalb einer Gesellschaft und der Armut ganzer Gesellschaften im globalen Vergleich.

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