Armut in Deutschland und in der Welt Warum wir ehrlicher über Armut reden müssen

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Zwei separate Ziele: Innerstaatliche und globale Armutsbekämpfung

Was geschieht, wenn man diese Differenzierung auf Kosten von Sentimentalität aufgibt, offenbart die sogenannte „Flüchtlingskrise“: Die Hilfs- und Aufnahmebereitschaft für die im Vergleich zum Durchschnittsdeutschen armen Einwandernden vernebelt den Blick auf die absolute Armut der Zurückgebliebenen.

In keiner Armutsstudie fehlt der Hinweis, dass Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten zu den besonders von Armut betroffenen Gruppen in Deutschland gehören. Aber soll man diese Menschen bedauern, wenn zugleich zig Millionen ihrer Landsleute zuhause trotz harter Arbeit deutlich schlechter leben? Sind sie nicht vermutlich auch darum nach Deutschland gekommen, weil ein Leben als „Armer“ in Deutschland - und sei es als Empfänger staatlicher Leistungen – deutlich angenehmer ist als eine Durchschnittsexistenz in ihren Herkunftsländern?

Im Armutsdiskurs sollte die undifferenzierte Sentimentalität endlich der klaren Unterscheidung weichen: Innerstaatliche und globale Armutsbekämpfung sind zwei separate Ziele, deren Vermischung die Erfolgsaussichten für beide schwächt.

Der Kampf gegen Armut innerhalb der Wohlstandsgesellschaften ist im Gegensatz zu den Bemühungen der Entwicklungspolitik kein Kampf gegen absolute Armut, also gegen Hunger und Elend, sondern einer um den Erhalt des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dabei müssen die Grenzen der Möglichkeiten innerstaatlicher Solidarität unbedingt beachtet werden.  

„Zwei Nationen“ - vereint dank Wachstum und Solidarität

Das Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahrhunderte, vor allem das der drei ersten Nachkriegsjahrzehnte, und der Ausbau des Wohlfahrtsstaats haben die absolute Armut, also den dauernden alltäglichen Kampf der Betroffenen ums Überleben, in den westlichen Industriegesellschaften beseitigt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang diesen Gesellschaften, was der Aufklärer Condorcet als erster moderner Armutsdenker als Ziel allen Fortschritts in Aussicht gestellt hatte: Der weitgehende Ausgleich der Spaltung in sehr viele Arme und wenige Wohlhabende.

Aus den „two Nations“ (so der Titel eines Romans des britischen Politikers Benjamin Disraeli von 1844), in die die Industriestaaten noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert geteilt waren, wurde eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky). In jenen Nachkriegsjahrzehnten, die französische Historiker „trentes glorieuses“ nennen, hat man daher die Armut auch aus dem offiziellen Sprachgebrauch entfernt. Die „Armenfürsorge“ wurde in Deutschland 1962 in „Sozialhilfe“ umbenannt.

Dass nun seit den 1990er Jahren wieder von „Armut in Deutschland“ die Rede ist, heißt nicht, dass der Kampf ums Überleben wieder zum Alltagsphänomen geworden ist. Man kann aber, wie Philipp Lepenies es befürwortet, trotzdem von Armut sprechen, sofern man deren Relativität betont.

Auch die Armen des 19. Jahrhunderts, des Mittelalters und der Antike litten eben nicht nur unter dem Mangel an Nahrung, Kleidung und anderen materiellen Gütern, sondern an ihrem Ausgestoßensein. Wer eine enge Definition von Armut bevorzugt, spricht daher lieber von Ungleichheit, von „relativer Deprivation“ oder „sozialer Ausgrenzung“. Armutsbekämpfung in Wohlstandsgesellschaften ist also sozusagen innere Friedenspolitik, die verhindert, dass wieder zwei soziale Nationen entstehen, die sich feindlich gegenüberstehen. 

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