Armutsbericht Arm, ärmer, Migrant

Mehr Menschen in Deutschland sind armutsgefährdet – vor allem im Westen, so neue Zahlen des Statistischen Bundesamts. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Für Einheimische hat sich wenig verändert.

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Viele Flüchtlinge schaffen es auch in Deutschland nicht, sich von der Armut zu befreien. Quelle: AP

Berlin Immer mehr Menschen sind hierzulande von Armut bedroht, lautet das Ergebnis einer aktuellen Studie des Statistischen Bundesamts. Eine überraschende Nachricht, kann doch die Wirtschaft in Deutschland derweil gute Zahlen aufweisen. Trotz der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre ist die Armutsquote 2015 im Vergleich zum Vorjahr angestiegen - um 0,3 Prozentpunkte auf 15,7 Prozent. Das ist der höchste Wert seit der Wiedervereinigung. Doch den Auswirkungen der Einwanderungswelle kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Die massiv gestiegenen Flüchtlingszahlen schlagen sich jetzt in den Statistiken nieder.

Der Bericht des Statistischen Bundesamtes zeigt zunächst große regionale Unterschiede – so war die Armutgefährdungsquote in den neuen Bundesländern (einschließlich Berlin) rückläufig (um 0,7 Prozentpunkte), während die Quote in den alten Bundesländern zulegte (+1,5 Prozentpunkte).

Im Westen Deutschlands sind heute deutlich mehr Menschen von Armut bedroht als noch vor zehn Jahren. 14,7 Prozent der Bevölkerung galten 2015 in den alten Bundesländern als armutsgefährdet, das waren 1,5 Prozentpunkte mehr als 2005.

Die Gefahr, unter die Armutsgrenze zu rutschen, lag in allen westdeutschen Ländern über dem Niveau des Jahres 2005 - außer in Hamburg. Im Osten ist die Armutsgefährdung insgesamt größer als im Westen, die Tendenz aber rückläufig. Das Risiko, arm zu werden, lag im Jahr 2015 in Bremen am höchsten. Dort ist jeder vierte von Armut bedroht (24,8 Prozent, plus 2,5 Punkte), gefolgt von Berlin mit 22,4 Prozent (plus 2,7 Punkte).

Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens in Deutschland verfügt. An dieser Grenze verläuft die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle. Der Wert ist deutlich niedriger als das Durchschnittseinkommen. Es handelt sich um eine relative Einkommensarmut. Den Armutsgefährdungsquoten für Bund und Länder liegt somit eine einheitliche Armutsgefährdungsschwelle zugrunde. Allerdings werden bei dieser Betrachtung Unterschiede im Einkommensniveau zwischen den Bundesländern nicht beachtet.

Für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag der Schwellenwert 2014 bei Einkünften von 2072 Euro im Monat. Für alleinlebende Erwachsene waren es 986 Euro pro Monat. Im europäischen Vergleich liegt die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland unterhalb des europäischen Durchschnitts, der 2010 bei 16,4 Prozent lag. Die Schlusslichter sind Lettland, Rumänien, Bulgarien.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kommt in einer weiteren Studie allerdings zu dem Ergebnis, dass die jüngste Zunahme ausschließlich auf den Anstieg des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund zurückgeht. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund sei die Quote bei 12,5 Prozent konstant geblieben. Das Armutsrisiko dieser Gruppe liegt damit weiter unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung und hat sich seit 2011 praktisch nicht verändert. Erwartungen, wonach die Einwanderungswelle seit Sommer 2015 eine Verarmung der einheimischen Bevölkerung nach sich ziehen könnte, werden durch die Zahlen des Statistischen Bundesamts also widerlegt.


„Augenmaß ist gefragt“

Sozialforscher Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung sagt, die Daten widersprechen der Vorstellung, dass die Einwanderung zu einer Verarmung der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund beitrage. „Es ist vielmehr so, dass die Neuzuwanderer aus den vergangenen beiden Jahren zeitverzögert in der Statistik auftauchen. Da sie meist ein sehr niedriges Einkommen haben, schlägt sich das nun in der Armutsquote nieder.“

Besonders von Armut bedroht sind Menschen, die erst seit kurzer Zeit in der Bundesrepublik leben. 41,9 Prozent der Personen, die vor weniger als fünf Jahren eingewandert sind, müssen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze zurechtkommen. Jedoch steigt der Anteil der Erwerbstätigen mit zunehmender Aufenthaltsdauer – damit sinkt gleichzeitig das Armutsrisiko.

Die Wahrscheinlichkeit, unter der Armutsgrenze zu leben, geht aber nicht kontinuierlich zurück, je länger Zugewanderte in Deutschland sind. Eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt hängt schließlich nicht nur von der Aufenthaltsdauer, sondern auch wesentlich von Bildung und Sprachkenntnissen ab. Syrische (78,1 Prozent), irakische (65,0 Prozent), pakistanische (59,3 Prozent) und afghanische (58,1 Prozent) Einwanderer sind dem Bericht der Hans-Böckler-Stiftung zufolge besonders von Armut betroffen.

Jedoch bestehe kein Anlass, die relative Einkommensarmut dieser Gruppen zu dramatisieren. Die Definition von Armut sei auf diese Gruppe kaum sinnvoll anwendbar. „Bei der Bewertung der neuen Zahlen ist Augenmaß gefragt“, sagt Sozialforscher Seils. Kurzfristig stehe für diese Menschen im Vordergrund, Verfolgung und Krieg entkommen zu sein. Erst mit Qualifikation für den Arbeitsmarkt wird es diesen Menschen mittel- und langfristig möglich sein, ihren Unterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten.

Die Erfahrung aber zeigt, dass das selbst Jahrzehnte nach der Einwanderung noch schwierig ist. Von den Migranten, die vor mehr als einem Vierteljahrhundert nach Deutschland gekommen sind, lebt noch immer mehr als ein Fünftel unterhalb der Armutsgrenze. „Dieser hohe Wert macht, ebenso wie der Umstand, dass in einer Zeit mit geringer Arbeitslosigkeit die Armutsquote insgesamt nicht sinkt, deutlich, dass Maßnahmen gegen Armut und Ungleichheit weit oben auf der Tagesordnung stehen sollten“, sagt WSI-Experte Seils.

Ob die Zahl der Armutsbedrohten in Deutschland tatsächlich steigt oder nicht, hängt maßgeblich von der Art der Erhebung ab. Kritiker bemängeln, die Armutsquote messe gar nicht Armut, sondern Ungleichheit. Häufiges Argument: Je mehr Reiche es gibt, desto höher die Vergleichsgröße. In einem Land von Millionären würde dann selbst ein überdurchschnittlich Verdienender als arm gelten.

Ob sich eine soziale Schere in Deutschland öffnet oder nicht, ist auch unter Fachleuten umstritten. Die Einkommensungleichheit ist heute aber definitiv höher ist als noch vor gut 20 Jahren. Dazu kommt, dass Vermögen noch sehr viel ungleicher verteilt sind als Einkommen. Die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens. In drei Viertel aller Haushalte liegt das Vermögen unterhalb des Durchschnitts. Das untere Fünftel besitzt gar kein Vermögen. Etwa neun Prozent dieser Haushalte haben negative Vermögen, sind also verschuldet.

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