Armutszuwanderung CDU macht Front gegen Freizügigkeit bei Sozialsystemen

Die Union will per Gesetz verhindern, dass Zuwanderer sofort Kindergeld oder ALG II erhalten. Ein Interview mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Pätzold.

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CDU-Bundestagsabgeordneter Martin Pätzold Quelle: Laurence Chaperon

Dr. Martin Pätzold, Mitglied des Bundestages, ist Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik im Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Herr Pätzold, wie gravierend ist das Problem der Armutszuwanderung in Deutschland und in Ihrer Heimatstadt Berlin?
Pätzold: Erst mal vorweg: Zuwanderung bereichert unser Land. Die meisten Zuwanderer gehen einer Arbeit nach, kommen hier nach Deutschland um ein neues Leben mit neuen Chancen anzufangen. Sie möchten sich hier einbringen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Deutschland ist vor allem wegen seines robusten Arbeitsmarkts ein beliebtes Ziel. Im Fokus der öffentlichen Diskussion der Armutswanderung stehen insbesondere Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, seit am 1. Januar 2014 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für diese EU-Mitgliedstaaten gilt. Die Armutswanderung aus Bulgarien und Rumänien ist vor allem ein Problem von Großstädten in der Bundesrepublik. Mein Heimat-Bundesland Berlin gehört dazu. In der Hauptstadt hat sich beispielsweise die Zahl der Rumänen und Bulgaren seit Ende 2010 auf 30.000 verdoppelt. Das stellt uns schon vor Hausforderungen für die soziale Infrastruktur.


Worüber beschweren sich die Bürger bei Ihnen besonders?
Die Bürger beschweren sich bei mir vor allem darüber, dass sie den Eindruck haben, dass Sozialleistungen durch Zuwanderer erschlichen werden. Vor einigen Monaten war ich bei einer Runde von Senioren in Berlin-Spandau. Dort haben mir die älteren Mitbürger deutlich gemacht, dass sie das ungerecht finden. Und die Politik handeln muss. Ein Beispiel dafür in Berlin: Knapp die Hälfte der ALG-II-Bezieher, in der Öffentlichkeit als Aufstocker bekannt, mit Staatsangehörigkeit aus Bulgarien und Rumänien in der gesamten Bundesrepublik leben in der deutschen Hauptstadt. 1.093 von 2.339 zum Stand Oktober 2013. Das zeigt, es gibt eine Konzentration von Problemen in einigen Kommunen in der Bundesrepublik. Auch wenn das Institut zur Zukunft der Arbeit richtigerweise feststellt, dass Zuwanderer insgesamt einen erheblichen Beitrag zum Bruttoninlandsprodukt und zur positiven Beschäftigungsentwicklung in der Bundesrepublik beitragen, sind die betroffenen Kommunen von ersthaften Problemen betroffen.


Gehört die Armutszuwanderung nicht zu den – wohl oder übel zu ertragenden – Begleiterscheinungen des europäischen Binnenmarktes mit seinen Freizügigkeiten?
Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa bedeutet freien Zugang zum Arbeitsmarkt und nicht freien Zugang zu Sozialleistungen. Die absolut positive Idee der Freizügigkeit wird durch Zuwanderung ins Sozialsystem ausgehöhlt. Da geht es auch nur begrenzt um die Anzahl der Fälle. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen so gestaltet werden, dass eine Zuwanderung in die Sozialsysteme erschwert wird. Die europäische Idee sieht keine Freizügigkeit in die Sozialsysteme anderer Mitgliedstaaten vor.

Anspruch auf deutsche Sozialhilfe

Angst vor Armutszuwanderung

Aber es gibt doch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes, wonach EU-Ausländer Anspruch auf deutsche Sozialhilfe haben.
Der Europäische Gerichtshof hat noch nicht über Hartz-IV-Ansprüche für EU-Bürger entschieden, die noch nie in Deutschland gearbeitet haben. Deutsche Gerichte urteilen bisher unterschiedlich. Manche sehen Sozialleistungen für EU-Ausländer vor, andere nicht. Der Europäische Gerichtshof wird demnächst abschließend entscheiden. In einem vergleichbaren Fall hat der Europäische Gerichtshof allerdings bereits entschieden, dass Österreich einem deutschen Rentner Sozialleistungen nur dann verweigern darf, wenn es nachweisen kann, dass durch den konkreten Sozialhilfeanspruch das gesamte österreichische Sozialsystem unangemessen belastet wird. So ein Nachweis dürfte in der Praxis kaum gelingen.


Was wollen Sie dagegen tun?
Der Standpunkt mein Partei ist klar: Wir wollen nicht, dass es zu einer Zuwanderung in unsere Sozialsysteme kommt, das heißt, dass EU-Bürger, die noch niemals in Deutschland gearbeitet haben, sollen in Deutschland keine Sozialhilfeansprüche geltend machen können. Das deutsche Recht sieht Leistungsausschlüsse für EU-Ausländer in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts vor. Darüber hinaus werden keine Leistungen gewährt, wenn der Aufenthalt nur zum Zweck der Arbeitssuche dient. Sollte der Europäische Gerichtshof entscheiden, dass dies nicht mit europäischen Recht vereinbar ist, muss zeitnah das entsprechende europäische Recht geändert werden, damit weiterhin gilt, dass EU-Ausländer nur dann über einen Anspruch auf Sozialhilfe in einem anderen Mitgliedstaat verfügen, wenn sie dort zuvor eine gewisse Zeit gearbeitet haben.

Wann ist denn mit konkreten Maßnahmen der Großen Koalition zu rechnen?
Die Bundesregierung hat dazu am 8. Januar 2014 einen Staatssekretärsausschuss unter der Federführung des Bundesinnenministeriums und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales einberufen. Dieser hat in seinem Zwischenbericht Ende März 2014 verschiedene Vorschläge zur Missbrauchsbekämpfung vorgelegt. So soll eine Wiedereinreisesperre im Fall des Rechtsmissbrauchs vorgesehen werden. Geplant sind außerdem eine Befristung des Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche und die Strafbewehrung des betrügerischen Erschleichens von Aufenthaltsbescheinigungen. Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit sollen durch verschiedene Änderungen des Gewerberechts eingedämmt werden. Auch im Bereich der Familienleistungen und des Kindergelds soll durch gesetzliche Anpassungen ein Missbrauch erschwert werden. Vorschläge für die Änderung europäischen Rechts sind allerdings erst für den Abschlussbericht vorgesehen.

Missbrauchsproblem beim Kindergeld

Vor diesen Problemen stehen die Zuwanderer
Teilnehmer eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache" Quelle: dpa
Eine Asylbewerberin wartet in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin Quelle: dpa
Eine Frau sitzt in einem Flüchtlingsheim in einem Zimmer Quelle: dpa
Ein Flüchtling sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft der Asylbewerber Quelle: dpa
Verschiedene Lebensmittel liegen in der Asylunterkunft in Böbrach (Bayern) in Körben Quelle: dpa

Was kann der Gesetzgeber konkret gegen das Problem der Scheinselbstständigkeit unternehmen – dass immer mehr Ausländer ein Gewerbe anmelden und dann aufstockende Sozialleistungen erhalten?
Die Bundesregierung empfiehlt dazu insbesondere in dem Zwischenbericht die Behördenzusammenarbeit mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit rechtlich zu erweitern und Gewerbebehörden, Jobcenter und Bundespolizei einzubeziehen. Zur Verbesserung der Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit wollen wir eine Änderung des Gewerberechts mit erweiterten Prüfungs- und Übermittlungspflichten einführen. In Berlin beispielsweise prüft jeder Bezirk heute noch separat ob Verdachtsfälle für Scheinselbstständigkeit vorliegen. Da gibt es keinen Austausch unter den Bezirken und den Behörden. Das erleichtert natürlich die Möglichkeit zu betrügen. Der Prüfung sind aber Grenzen gesetzt, da die Gewerbefreiheit im Grundgesetz geschützt ist und außerdem zu strenge Prüfungsmaßstäbe gegen das Diskriminierungsverbot der EU verstoßen würden. Außerdem können EU-Bürger auch einfach eine geringfügige unselbständige Teilzeitbeschäftigung aufnehmen und erhalten dadurch für sich und ihre gesamte Familie einen kompletten Hartz-IV-Aufstockeranspruch. Eine Kontrolle, inwieweit es sich bei einer Teilzeitbeschäftigung mit einem Lohn von 100 Euro im Monat um ein Scheinarbeitsverhältnis handelt, ist in der Praxis kaum zu leisten. Hier ist der europäische Gesetzgeber gefragt.


Offenbar gibt es auch ein Missbrauchsproblem beim Kindergeld. Manche erschleichen sich mehrfach Gelder, zum Teil lässt sich gar die Zahl der Kinder nicht kontrollieren. Was könnte die Politik hier tun?
Keiner weiß wirklich, welche EU-Bürger wo welche Leistungen erhalten. Deswegen wollen wir zur Vermeidung von Missbrauch und Doppelzahlungen eine Verpflichtung zur Angabe der Steueridentifikationsnummern von Kindergeldberechtigten im Kindergeldantrag einführen und die Überprüfung von Anspruchsvoraussetzungen sowie den Nachweisen dafür deutlich verschärfen.

Was erwarten Sie aus Brüssel? Was kann die EU gegen Armutszuwanderung und Sozialmissbrauch unternehmen?
Europa hat eine große Verantwortung für das Thema. Erstens, wir müssen mit den europäischen Fördermitteln dazu beitragen, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen in den Herkunftsländern verbessern. Damit haben die Menschen dort die Chance, sich zu entfalten und einer Arbeit nachzugehen. Und für die Länder ist es durchaus ein ernstzunehmendes Problem, wenn junge, mobile und zum Teil gut ausgebildete Menschen eine neue Heimat suchen. Und zweitens, wir müssen den Kommunen in der Bundesrepublik helfen, die Unterstützung in den Bereichen Schule, Integration, Wohnraum- und Gesundheitsversorgung brauchen. Mit dem Programm „Soziale Stadt“ sowie europäischen Fördermitteln soll hier den Kommunen geholfen kann. Insgesamt bis zu 200 Millionen Euro sind dafür vorgesehen. Auch das hat der Zwischenbericht festgehalten. Drittens hat die Kommission zu prüfen, inwieweit das europäische Recht geändert werden muss, um klarzustellen, dass es kein Anspruch auf Freizügigkeit in die Sozialsysteme anderer Mitgliedstaaten gibt.

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