Arznei-Engpässe in Deutschland Fehlen uns bald wichtige Medikamente?

Vor allem Krankenhäuser klagen über Engpässe bei wichtigen Arzneimitteln. Patienten erhalten deshalb oft schlechtere Medikamente – meist ohne davon zu erfahren. Die Politik will nun mit einer Meldepflicht gegensteuern.

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Wenn die Apotheken ein Medikament nicht vorrätig haben, liefern sie entweder zügig oder bieten den Patienten eine Alternative an. In den Krankenhäusern läuft es längst nicht so reibungslos. Quelle: dpa

Berlin Immer wieder sorgen Meldungen über fehlende Medikamente in Deutschland für Schlagzeilen. Zuletzt waren es Warnungen vor Lieferengpässen bei einem wichtigen auch gegen Krankenhausinfektionen wirksamen Antibiotikum, nachdem ein Herstellungsbetrieb in China in die Luft geflogen war. Gerne machen Apotheker- und Pharmaverbänden dann die Krankenkassen verantwortlich. Die Vorwürfe: Weil die Krankenkassen, allen voran die AOK, mit Rabattverträgen die Preise für aus dem Patentschutz gelaufene Medikamente immer weiter nach unten geprügelt hätten, seien wichtige Medikamente auf dem deutschen Markt bald gar nicht mehr verfügbar.

Die AOK Baden-Württemberg wollte es genauer wissen. Der Vorstandschef Christopher Hermann hatte die heute am häufigsten genutzten Form von Rabattverträgen zwischen Kassen mit Arzneimittelherstellern erfunden und gegen heftige Widerstände durchgesetzt. Jetzt beauftragte der Verband das Meinungsforschungs-Institut Forsa mit einer repräsentativen Umfrage. Die ergab, dass fehlende Medikamente in den Apotheken, kein nennenswertes Problem sind: Zwar berichteten acht von zehn Befragten, dass das ihnen vom Arzt verschriebene Medikament in der Apotheke nicht vorrätig war.

Doch bei 72 Prozent wurde das Mittel noch am gleichen Tag nachgeliefert. 27 Prozent konnten das Mittel einen Tag später abholen. 40 Prozent erhielten mindestens einmal statt des auf dem Rezept vermerkten Medikaments ein anderes gleich wirksames Mittel mit der Begründung, das verordnete sei gerade nicht verfügbar. „In den öffentlichen Apotheken ist die Arzneimittelverfügbarkeit offenbar doch noch sehr gut“,  folgert daraus AOK-Chef Hermann. Dazu passen auch die Abrechnungsdaten der Krankenkassen. Demnach wurde 2016 nur bei 0,6 Prozent der abgerechneten Arzneimittel ein Lieferversagen vom Hersteller dokumentiert.

Doch leider ist das nicht die komplette Wahrheit. In deutschen Krankenhäusern sieht es nämlich ganz anders aus. Das belegt eine vom Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker durchgeführten Umfrage bei Krankenhausapotheken. Danach sind in deutschen Kliniken insgesamt Arzneimittel mit 280 verschiedenen Wirkstoffen gelegentlich nicht verfügbar. Darunter sind 30 Wirkstoffe, die als „versorgungskritisch“ eingestuft werden. „Wir erleben die Lage inzwischen als dramatisch. Kein Tag vergeht ohne Meldungen über Lieferunfähigkeit“, so Verbandschef Rudolf Bernard. Das nehme zum Teil durchaus schon Züge eines Versorgungsnotstands an.

Besonders zynisch daran sei, dass die Klinikpatienten selbst davon gar nichts mitkriegen, ergänzt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Patienten erhielten ganz einfach ein anderes Medikament und werden gar nicht darüber informiert, dass auch eine bessere Behandlung möglich gewesen wäre. Allein im Februar seien hochgerechnet 12.000 Krankenhauspatienten gefährdet gewesen, weil wichtige Medikamente fehlen, so Bernard.


Großhändler und Apotheken sollen ihre Bestände melden

Ein besonders prägnantes Beispiel ist das Antibiotikum Cubicin. Es wird eingesetzt, wenn andere Antibiotika versagen, weil die Krankheitskeime dagegen schon resistent sind. Lieferausfälle gab es auch immer wieder beim Krebsmittel Alkeran. Es wird zur Vorbereitung einer Stammzelltransplantation eingesetzt. Für Patienten entstünden bei Lieferausfällen Wartezeiten, die ihre Heilungschancen verringern, klagt Bernard.

Im so genannten Pharmadialog mit der Bundesregierung hatten sich die Arzneimittelhersteller eigentlich verpflichtet, Lieferengpässe sofort an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu melden. Dies sei jedoch nur bei acht der 30 versorgungskritischen Wirkstoffe geschehen, berichtet Bernard.

Darauf  haben Union und SPD jetzt auch auf Drängen der AOK Baden-Württemberg reagiert. In das Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz, das noch diese Woche vom Bundestag verabschiedet werden soll, fügten sie quasi auf den letzten Metern eine gesetzliche Informationspflicht ein. Hersteller müssen demnach direkt die Krankenhausapotheken informieren, wenn ein Lieferengpass absehbar ist. Strafbewehrt ist diese Verpflichtung allerdings nicht. „Wir haben davon abgesehen, weil der zur Verfügung stehende Strafrahmen im Ordnungsrecht mit einer Maximalbuße von 25.000 Euro zu gering ist. Das wäre für die Hersteller ja nur ein Nasenwasser“, zeigte AOK-Chef Hermann Verständnis.

Allerdings kündigte Lauterbach weitere Maßnahmen des Gesetzgebers ab, sollte die Meldepflicht nicht greifen. Hermann sieht nur einen Weg, Engpässe in der Arzneimittelversorgung auszuschließen. „Wir brauchen volle Transparenz über alle Lieferwege und die Lagerhaltung aller Arzneimittel.“ Die könnte am besten dadurch hergestellt werden, dass zum einen Pharmaunternehmen verpflichtet werden, Lieferengpässe an das BfArM zu melden. Zum anderen müssten aber auch alle anderen Akteure der Handelskette – also Großhändler und Apotheken – ihre Lagerbestände dem BfArM mitteilen. Dort könnten die Daten dann in einem Trust-Center zusammengeführt werden.

So soll sichergestellt werden, dass die Daten vertraulich bleiben und nicht geschäftsschädigend gegen einzelne Unternehmen genutzt werden können. „Nur eine verbindlich sichergestellte, frühestmögliche und umfassende Information kann helfen, bei sich abzeichnenden Engpässen noch vorhandene Vorräte schnell aufzuspüren und dort zum Einsatz zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt werden“, so Hermann.

Die Pharmaindustrie ist zwar nicht grundsätzlich gegen ein besseres Informationssystem. Sie hat aber große Zweifel, dass es tatsächlich helfen wird. „Alle Erfahrung zeigt, dass Engpässe bei Arzneimitteln vor allem in zwei Bereichen vorkommen: bei Generika-Rabattverträgen und in der Krankenhausversorgung“, meint Bork Bretthauer, Geschäftsführer des Herstellerverbands Pro Generika. Sowohl bei den Generika-Verträgen als auch bei der Krankenhausversorgung gebe es einen extrem hohen Preisdruck. „Dieser hohe Preisdruck führt zu einer steigenden Marktverengung – also zu einem Rückgang der Zahl der Anbieter eines bestimmten Medikaments“, sagt Bretthauer. Falle dann einer der wenigen verbliebenen Anbieter aus oder habe Qualitätsprobleme, komme es sofort zu Lieferengpässen.

Die Rabattverträge beschleunigten die Probleme nur noch. „Rabattverträge wirken bei einem Engpass wie Brandbeschleuniger. Deshalb hilft es wenig, bei einem Feuer nach mehr Rauchmeldern zu rufen“, sagt er.


Engpässe vor allem bei Medikamenten aus Niedriglohnländern

Bretthauer plädiert vielmehr  dafür, die Arzneireform noch an einer anderen Stelle zu ergänzen. Die Kassen sollten verpflichtet werden, bei der Ausschreibung von Rabattverträgen immer mehreren Herstellern den Zuschlag zu geben. Dann würde eine weitere Marktverengung durch neue Rabattverträge verhindert. Gleichwohl könnten die Kassen weiter solche Verträge schließen. Damit relativierte Bretthauer frühere Forderungen, Rabattverträge für bestimmte Medikamentengruppen ganz abzuschaffen.

Wolf Dieter Ludwig, der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, bestätigt, dass die Versorgungsengpässe vor allem bei Medikamenten auftreten, die keinen Patentschutz mehr haben und entsprechend billiger angeboten werden müssen. In diesen Fällen gebe es oft nur nur noch wenige Hersteller in Ländern wie Indien und China, die den gesamten Markt für Unternehmen in Europa und den USA belieferten.

Auch Pro Generika hat vor wenigen Wochen zwei Studien vorgelegt, nach denen Lieferengpässe bei Antibiotika dadurch verursacht werden, dass die Produktion oder wichtige Teile davon nur noch bei wenigen großen Produzenten in Niedriglohnländern stattfinden.

Zweifel lassen sich aber daran anmelden, dass dafür die Rabattverträge der Krankenkassen verantwortlich sind. Die kontinuierliche Verlagerung der Produktion aus dem Patentschutz gelaufener Arzneimittel in Länder mit einem geringeren Lohnniveau hat zu einer Zeit eingesetzt, als Krankenkassen noch gar keine Rabattverträge abschließen duften. Diese wurden vielmehr erfunden, um die hohen Margen in der Arzneimittelindustrie wenigstens teilweise zugunsten der gesetzlich Krankenversicherten abzuschöpfen. Ob der Kellertreppeneffekt bei den Preisen, den diese Rabattverträge ausgelöst haben, inzwischen die Versorgungssicherheit gefährdet, ist eine offene Frage.

Der Verzicht auf entsprechende Ausschreibungen würde aber sicher nicht dazu führen, dass Hersteller ihre Produktion wieder in größerem Umfang in sicherere Hochlohnländer verlagern würden. Für bestimmte versorgungsrelevante Antibiotika hat Pro Generika wohl auch deshalb vorgeschlagen, öffentlich gefördert wieder Produktionen in Deutschland aufzubauen, um sich von Ländern wie China oder Indien unabhängig zu machen. Auch wenn das die Krankenkassen mehr Geld kosten würde.

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