WirtschaftsWoche: Herr Mahbubani, Angela Merkel ist aktuell in schwieriger Mission bei Chinas Präsidenten Xi Jinping zu Besuch. Wer hat die bessere Verhandlungsposition?
Kishore Mahbubani: Ganz klar: Xi Jinping. Vor 30 Jahren war die deutsche Wirtschaft stark und die chinesische schwach. Aber das hat sich grundlegend geändert. Chinas Wirtschaft ist deutlich größer als die deutsche – und immer noch auf Wachstumskurs.
Haben die Deutschen diese Dynamik und ihre Konsequenzen schon verinnerlicht?
Es gibt immer Leute, die ihre Augen vor der Realität verschließen. Aber den meisten deutschen Politikern und Unternehmern dürfte aufgefallen sein, dass wir nicht mehr im Jahr 1980 leben. Außerdem sind die Konsequenzen dieser Veränderung gar nicht so schlecht für Deutschland. Sowohl Deutschland als auch China profitieren vom Export. Beide Ländern haben ein gemeinsames Interesse: Sie wollen den globalen Handel am Leben erhalten.
In Deutschland ist China in den vergangenen Jahren eher mit Schlagzeilen über geklaute Produkte aufgefallen.
Ach, das ist doch eine alte Geschichte. Es mag da Probleme gegeben haben, aber die werden verschwinden. Die jüngsten Statistiken zeigen, dass China mittlerweile bei den wissenschaftlichen Ergebnissen die weltweite Nummer 1 ist. In China wird mehr Forschung betrieben als in den USA. Und das Projekt Made in China 2025 wird diese Entwicklung noch verstärken. In 20 Jahren wird China der unerbittlichste Verteidiger geistigen Eigentums sein – weil es schlicht im Interesse Chinas liegen wird.
Zur Person
Kishore Mahbubani ist einer der wichtigsten Vordenker des asiatischen Staatskapitalismus und gilt als scharfzüngiger Kritiker des Westens. Als Botschafter Singapurs vertrat der Politikwissenschaftler sein Land unter anderem in Kambodscha, den USA und bei den Vereinten Nationen. Aktuell verbringt Mahbubani ein zweimonatiges Sabbatical an der chinesischen Fudan University in Shanghai. Zuletzt erschien sein Buch „Has the West lost it?“
Wer sich mit deutschen Politikern und Unternehmern unterhält, hört die Sorge trotzdem immer wieder.
Dann sorgen sich die Deutschen um die falschen Probleme. In Deutschland gibt es aufgrund seiner Geschichte die Tendenz, Gefahren immer im Westen oder Osten zu vermuten. Aber die nächste riesige Herausforderung wird aus dem Süden kommen. 1950 war Europas Bevölkerung doppelt so groß wie die Afrikas. Im Jahr 2100 dagegen wird es in Afrika zehn Mal so viele Menschen geben wie in Europa. Nach Deutschland kommen dann keine Panzer mehr aus Frankreich oder Russland, sondern Migranten aus dem Süden.
Migranten sind keine Panzer…
… natürlich nicht. Ich bewundere Angela Merkel für Ihre Entscheidung, damals die Grenze geöffnet zu haben, das war eine großartige humanitäre Geste. Aber sie hätte Merkel auch beinahe ihren Job gekostet. Außerdem hat sie die Populisten stark gemacht und die deutsche Gesellschaft gespalten.
Die Analyse ist nicht neu.
Nein, aber die Deutschen ziehen noch nicht die richtigen Schlüsse aus ihr. Deutschland und Europa müssen sich auf Afrika fokussieren. Und sie müssen dabei mit China zusammenarbeiten. Es liegt doch in Europas ureigenem Interesse, die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas zu fördern. Deswegen brauchen sie eine Strategie für den Kontinent. Und das einzige Land, das bislang dort mächtig in Entwicklung und Infrastruktur investiert, ist eben China.
Weil China seinen ökonomischen und geopolitischen Einfluss ausbauen will…
Ja, aber das ist schließlich auch sein gutes Recht! Europa und die USA haben ihre Macht über 200 Jahre kontinuierlich ausgebaut. Aber nun geht die Herrschaft des Westens zu Ende. In Zukunft wird es keine unipolare Welt mehr geben. Europa und die USA werden stark bleiben – aber sie werden sich damit abfinden müssen, sich mit den aufstrebenden Mächten wie China oder Indien zu arrangieren.
Harmonisches Treffen in China
Sie behaupten schon seit Jahren, dass es mit dem Westen vorbei geht…
Ja, denn das ist das Gesetz der Geschichte. China hat die Welt für mehr als 1800 Jahre dominiert. Den Spitzenplatz hat das Land erst in den vergangenen 200 Jahren an die USA und Europa verloren. Gerade beobachten wir, wie die Geschichte zu ihrem natürlichen Gleichgewicht zurückkehrt.
In fast allen wichtigen globalen Institutionen geben aber weiterhin die USA und Europa den Ton vor. Dem durchschnittlichen Europäer oder Amerikaner geht es besser als einem durchschnittlichen Chinesen. Und Unternehmen wie Google oder Facebook sind auch nicht in China entstanden.
Es stimmt: Die USA und Europa sind immer noch stark und ich wünschte, sie würden es auch bleiben. Doch der relative Anteil am Welthandel verschiebt sich. Schauen Sie: 1995 kamen 45 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung aus den G7-Ländern während die E7, also die sieben aufstrebenden Entwicklungsländer, 23 Prozent beisteuerten. 2015 hatten die E7 die G7 schon mit 36 zu 31 Prozent überholt. Und 2050 werden die G7 noch 20 Prozent des Wohlstands produzieren – und die E7 fast 50 Prozent, zumindest kaufkraftbereinigt. Wenn Sie also eine Wette auf ein Pferd setzen müssten: Würden Sie dann auf den Gaul setzen, der gerade zum Sprint ansetzt, oder auf das Pferd, dem die Puste ausgeht?
Und wie soll der Westen darauf reagieren?
Der Westen hat die Welt für 200 Jahre geprägt. Während dieser Zeit hat er sich in den Gedanken verliebt, dass alle Länder seinen Ideen folgen sollten. Dafür hat der Westen sogar Kriege geführt. Jetzt ist es an der Zeit, dass sich der Westen wieder auf sich selbst besinnt. Er sollte seine Strategie neu starten und aufhören sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen.
Das klingt nach Krise des Liberalismus. Wie wird die Welt in 30 Jahren aussehen? Welches wirtschaftliche und politische System setzt sich durch?
Das System, das die besten Ergebnisse für seine Bürger erzielt. Wenn der Liberalismus die anderen Gesellschaftssysteme auch wirtschaftlich überbieten kann, dann wird die Idee auch weiterhin prosperieren. Aber wenn nicht, dann wird sie langsam sterben.
Und welche Prognose geben Sie?
Ich hoffe, dass der Liberalismus noch eine lange Zukunft vor sich hat. Aber ich glaube auch, dass er sich neu justieren muss. In den USA können 63 Prozent der Familien nicht einmal mehr auf 500 Dollar in bar für Notfälle zurückgreifen. Wenn der Liberalismus weiterhin solche Ergebnisse produziert, dann sieht es schlecht um ihn aus.