Nach der Einigung der Unionsparteien auf einen Asylkompromiss haben der Koalitionspartner SPD sowie die österreichische Regierung Bedenken geäußert. Es seien zwar Fortschritte erzielt worden, „wir sind aber noch nicht ganz zusammen“, sagte SPD-Chefin Andrea Nahles am Dienstagabend nach Beratungen der Spitzen der drei Regierungsparteien im Koalitionsausschuss. Zuvor hatte sie von einem „erheblichen Beratungsbedarf“ gesprochen. Für Kritik bei den Sozialdemokraten sorgen vor allem die von CDU und CSU vereinbarten Transitzentren, in denen bereits in anderen EU-Staaten registrierte Migranten untergebracht werden sollen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will am Donnerstag nach Wien reisen, um mit der österreichischen Regierung ein Abkommen zum Umgang mit Flüchtlingen auszuhandeln. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte an, er werde keine Verträge zulasten seines Landes abschließen.
Neben den Transitzentren sollen nach dem Willen der Union auch Abkommen mit anderen EU-Staaten dafür sorgen, dass keine bereits registrierten Asylbewerber nach Deutschland einreisen können. Seehofer sagte, er habe bereits mit Kurz telefoniert. „Ich habe den Eindruck, dass er an vernünftigen Lösungen interessiert ist.“ Kurz sagte am späten Nachmittag: „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet und bereit, sämtliche Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um Schaden für unsere Republik abzuwenden.“ Nationale Maßnahmen von Deutschland werde Österreich daher mit Maßnahmen an den Südgrenzen beantworten.
Sollten auch andere EU-Staaten dem Beispiel Österreichs folgen, wäre der kontrollfreie Reiseverkehr gefährdet, der als wichtiger Bestandteil der europäischen Integration gilt. Seehofer kündigte an, auch mit weiteren EU-Ländern zu verhandeln. Am Dienstag telefonierte er mit seinem italienischen Kollegen Matteo Salvini. Bei dem „herzlichen“ Gespräch sei es um die Sicherung der EU-Außengrenzen und illegale Migration gegangen, teilte Salvini mit. In Italien ist der Widerstand gegen die Aufnahme von Migranten und Flüchtlinge besonders groß, zumal viele der von Nordafrika kommenden Flüchtlinge zum ersten Mal in Italien die EU betreten.
Von der EU-Kommission kamen positive Signale. Der Asylkompromiss der Union verstoße nicht gegen europäisches Recht, erklärte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Unter Verweis auf das Europarecht hatte Kanzlerin Angela Merkel die Forderung Seehofers abgelehnt, Flüchtlinge auch ohne Abstimmung mit anderen EU-Staaten an der Grenze abzuweisen. Erst nach einer Krisensitzung der Unionsspitzen am Montagabend konnten beide Parteichefs ihre Differenzen beilegen. Der Plan für Transitzentren sieht vor, jene Asylbewerber an der Einreise zu hindern, für deren Verfahren andere EU-Länder zuständig sind. Aus den Zentren sollen dann Flüchtlinge in die EU-Einreisestaaten zurückgebracht werden. Die Rückführung soll auf Grundlage von Verwaltungsabkommen mit diesen Staaten erfolgen, die Seehofer nun aushandeln will.
Nahles kündigte an, die Beratungen mit der Union würden am Donnerstag fortgesetzt. Was auch immer die SPD mit der Union in der Flüchtlingspolitik vereinbaren werde, werde weder dem Koalitionsvertrag noch dem Fünf-Punkte-Plan der SPD widersprechen. Andernfalls werde sie nicht zustimmen. Für SPD-Politiker ist ausschlaggebend, dass aus den Transitzentren keine gefängnisartigen Einrichtungen werden. Juso-Chef Kevin Kühnert wies darauf hin, dass sich die Sozialdemokraten bereits früher gegen geschlossene Einrichtungen ausgesprochen hätten. „Und deswegen erwarte ich jetzt auch ganz klar, dass wir da auch nicht einfach einknicken“, sagte er im RBB.
Die Reaktionen auf die Unions-Einigung im Asylstreit
„Ein Auseinanderbrechen der deutschen Regierung, knapp 100 Tage nach ihrem Amtsantritt, wurde zwar fürs Erste verhindert, aber die Spannungen innerhalb des Regierungslagers sind damit keineswegs aus dem Weg. Dies schadet Deutschland nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Diese Spannungen schädigen die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung - und dies gerade in Zeiten, in denen diese viele wichtige Entscheidungen treffen muss. Die Krise schafft eine enorme Unsicherheit für die Wirtschaft, was bereits jetzt zu einem Rückgang der Investitionen und des Wirtschaftswachstums beiträgt. Die Spannungen zwischen den Regierungsparteien schaden nicht nur Deutschland, sondern auch Europa, da die Glaubwürdigkeit der deutschen Regierung und der Bundeskanzlerin dadurch beschädigt wird“, so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
„Die große Koalition muss endlich aus dem Krisenmodus der vergangenen Wochen herausfinden und ihrer Verantwortung für das Land gerecht werden. Die Flüchtlingsfrage ist bei weitem nicht das einzige Problem“, sagt Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands Mittelständischer Wirtschaft (BVMW). „Denn: Die Konjunktur trübt sich bedenklich ein, bei der Digitalisierung liegen wir deutlich zurück, der Fachkräftemangel kostet Wachstum und die aufkommenden Handelskonflikte bedrohen unsere Exporte. Auch auf europäischer Ebene stehen große Aufgaben an, wie der Brexit. Angesichts dieser Herausforderungen braucht Deutschland dringend eine handlungsfähige, stabile Regierung.“
„Aus wirtschaftlicher Sicht ist es zunächst erfreulich, dass die Regierungskrise überwunden scheint. Doch es bleibt erschreckend, wie wenig an inhaltlicher Substanz dazu gehört, eine derartige Krise auszulösen. All dies sind Menetekel eines Verfalls des politischen Systems, wie wir es kennen. Insofern bleibt die Unsicherheit trotz lautstarker Kompromissverkündung letztlich bestehen. Deutschland und Europa gehen ungewissen Zeiten entgegen“, sagte Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
„Eine europäisch koordinierte Asylpolitik hat ökonomische Vorteile. Im Konflikt um die deutsche Asylpolitik stand die Frage im Mittelpunkt der politischen Debatte, ob das Land die Ziele seiner Asylpolitik auch im nationalen Alleingang erreichen könnte. Abgesehen von den Kosten von Grenzkontrollen im Binnenmarkt, trägt eine funktionierende europäische Flüchtlingsaufnahme zur Stabilisierung überlasteter Staaten wie Libanon und Jordanien bei. Diese Stabilisierung ist auch von erheblichem ökonomischen Nutzen für Europa. Hinzu kommt, dass ein europäischer Ansatz den EU-Mitgliedstaaten eine Versicherung gegen hohe Kosten zukünftiger neuer Flüchtlingskrisen bieten kann“, meint Friedrich Heinemann, Ökonom am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Reiner Hoffmann, kritisiert die von der Union angestrebten Transitzentren. Diese würden „kaum die Lösung sein“, sagt er dem Wirtschaftsnachrichtenportal Business Insider. „Es ist dringend notwendig, dass die Fluchtursachen endlich wirksam bekämpft werden.“
„Ich begrüße die Einigung von CDU und CSU ausdrücklich und hoffe, dass die Koalition dies jetzt aber auch sehr zügig mit der erforderlichen Rechtssicherheit umsetzt“, sagte Gewerkschaftschef Ernst Walter dem „Handelsblatt“. Er sei außerdem „sehr froh“ darüber, dass CSU-Chef Horst Seehofer „Haltung gezeigt hat, nicht zurückgetreten ist und weiter unser Innenminister bleibt“.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) bewertete die geplante Einrichtung von Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze skeptisch. „Das ist ein alter Hut“, sagte der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Jörg Radek der „Mitteldeutschen Zeitung“. Auch beschränke sich das Vorhaben nur auf die deutsch-österreichische Grenze. Radek fügte hinzu: „Meine Befürchtung ist, dass der Grenzschutz zur Symbolpolitik missbraucht wird. Das gilt auch für Transitzentren.“
Die SPD zeigt sich offen für den Einigungsvorschlag der Union, sieht laut Fraktionschefin Andrea Nahles aber noch „erheblichen Beratungsbedarf“. Die von der Union geforderten Transitzentren für Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze seien „nicht derselbe Sachverhalt, nicht dieselbe Gruppe“ wie auf der Höhe des Flüchtlingszuzugs 2015/2016, sagt Nahles nach einer Fraktionssitzung in Berlin. „Deshalb lehnen wir den Begriff auch ab.“
Die von CDU und CSU vereinbarten Regeln läuten aus Sicht der AfD keine Trendwende in der Asylpolitik ein. Parteichef Jörg Meuthen sagte der Deutschen Presse-Agentur, Seehofer habe von der CDU „nur ungedeckte Schecks erhalten“. Deutschland werde sich auch in Zukunft schwer damit tun, Asylbewerber, die einmal die Grenze passiert haben, wieder außer Landes zu bringen. Auch durch die Unterbringung in grenznahen Transitzentren von Menschen, die eigentlich in einem anderen EU-Land ihr Asylverfahren durchlaufen müssten, werde dieses grundlegende Problem nicht gelöst. Er könne sich zudem nicht vorstellen, dass die österreichische Regierung eine Zurückweisung von Ausländern an der Grenze akzeptieren werde, sagte Meuthen.
Die Grünen haben den Kompromiss massiv kritisiert. Der Vorsitzende Robert Habeck sieht darin einen Aufguss alter Ideen: „CDU und CSU haben einen Vorschlag von 2015 rausgekramt und verkaufen das als Einigung“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Diesen alten Kram kippen sie nun der SPD vor die Füße und sagen: Super, das ist es jetzt. Dabei hat die SPD Transitzonen explizit als Massenlager abgelehnt. Arme SPD.“ Nach dem „Theater“ der vergangenen Wochen, mit dem Deutschland und Europa destabilisiert worden seien, „ist das einfach hanebüchen.“ Habecks Amtskollegin auf dem Parteivorsitz, Annalena Baerbock, nannte in der Nacht zu Dienstag die geplanten Transitzentren „Internierungslager“. Die Union „verabschiedet sich vom Wertekompass unseres Landes“, schrieb sie im Internetdienst Twitter. „Einen Innenminister zu halten, der sein Amt für CSU-Rechtsruck missbraucht, ist kaum zu ertragen.“
Von der Linkspartei kommt Kritik: „Der Machtkampf in der Union ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten“, erklären die Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. „Nach dem Rücktritt vom Rücktritt belohnt Bundeskanzlerin Merkel das Schmierentheater der CSU mit weiteren Zugeständnissen und rückt damit die Politik weiter nach rechts.“
Die Gewerkschaft der Polizei warf der Union vor, „Symbolpolitik“ als Lösung zu verkaufen. Transitzentren nützten nur an Flughäfen etwas, wo die Menschen keine weitere Möglichkeit der Einreise hätten, sagte GdP-Vizechef Jörg Radek der Funke-Mediengruppe. Teil der Pläne ist auch die Ausweitung der Schleierfahndung. Damit sollen hinter der Grenze Flüchtlinge ermittelt werden, die bereits in anderen EU-Staaten registriert wurden. In der CDU wird erwartet, dass dadurch sehr viel mehr Personen festgestellt werden als durch die mit der CSU vereinbarten Maßnahmen für das bayerisch-österreichische Grenzgebiet.