Es ist 12.45 Uhr, höchste Zeit für eine Mittagspause. Doch Michaela Vogelreuther wird schon im Vorzimmer aufgehalten. „Chefin!“, ruft ihr die Sekretärin entgegen, „Sie müssen ganz dringend noch mal raus zur Unterkunft, da gibt’s Probleme, Läuse oder so!“ Vogelreuther atmet kurz und hörbar aus und bricht die Pause erst mal ab. Sie kehrt um, greift zum Telefon.
Was Michaela Vogelreuther zurzeit erlebt, ist nicht normal in deutschen Behörden, doch in diesem Sommer ist es vielerorts zum Alltag geworden. Vogelreuther leitet das Sozialamt der Stadt Fürth, ihre Zuständigkeiten reichen von Seniorenarbeit über Behindertenbetreuung bis zum Wohngeld.
Doch momentan geht es nur um eines: Flüchtlinge. Vogelreuther erinnert sich, wie sie an einem Mittwoch Anfang des Monats den Anruf des Bürgermeisters bekam: „Servus Michaela, wir müssen bis Freitag 300 Flüchtlinge unterbringen.“ – „300? Diesen Freitag?“ – „Sicher. Sonst stellen die uns die Leute einfach vorm Rathaus ab, das haben die in den Neunzigerjahren schon mal so gemacht.“
Immer mehr Flüchtlinge
In den vergangenen Monaten sind immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Ukraine, Syrien, Irak, Somalia – die Krisen der mittelfernen und entlegenen Welt, sie sind auf einmal ganz nah.
In einem einzigen Zug von Verona nach Rosenheim wurden vor einiger Zeit gleich 100 Flüchtlinge aufgegriffen. Nahe Flensburg stoppte die Polizei einen Reisebus mit 85 Entwurzelten auf dem Weg nach Skandinavien. Bei Straubing kümmerte die Polizei sich um ein gutes Dutzend Personen, die auf dem Standstreifen der Autobahn herumirrten. Mit einem Lkw seien sie direkt aus der Türkei gekommen, gaben die Flüchtlinge zu Protokoll.
Die meisten aber melden sich von selbst, ohne Vorwarnung stehen sie an der Tür einer beliebigen deutschen Behörde. Insgesamt beantragten zwischen Januar und August 115 737 Menschen in Deutschland Asyl, 62,5 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2013.
„Wir müssen uns darauf einrichten, dass uns das Flüchtlingsproblem in den nächsten Jahren in Deutschland fordern wird“, sagt CSU-Entwicklungshilfeminister Gerd Müller. Aus den vereinzelten Beschwerden von Kommunen und Ländern wird währenddessen ein immer lauter anschwellender Wehgesang: So viele Flüchtlinge, wie soll das gehen? Der Bund müsse helfen, mehr Geld geben. Die anderen europäischen Staaten sollten sich stärker engagieren. Alleine aber sei es auf keinen Fall zu schaffen.
Es stimmt, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnimmt wie kein anderes Land der Europäischen Union. Es stimmt auch, dass manch großes Land sich um die Verantwortung drückt (siehe Kurztextgalerie unten). Aber es stimmt nicht, dass dies allein der Grund ist für das Chaos hierzulande.
Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)
Zypern
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.255
...pro 100.000 Einwohner: 145
Deutschland
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 126.705
...pro 100.000 Einwohner: 158
Belgien
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.030
...pro 100.000 Einwohner: 189
Ungarn
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 18.895
...pro 100.000 Einwohner: 190
Luxemburg
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.070
...pro 100.000 Einwohner: 199
Österreich
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 17.500
...pro 100.000 Einwohner: 207
Norwegen
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 11.930
...pro 100.000 Einwohner: 236
Schweiz
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.305
...pro 100.000 Einwohner: 265
Malta
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 2.245
...pro 100.000 Einwohner: 533
Schweden
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 54.270
...pro 100.000 Einwohner: 568
Spiel mit der Tür
Markus Märtens ist ein bisschen verdutzt, wenn er Geschichten wie die von Michaela Vogelreuther aus Fürth hört. Sicher, sein Blick auf das Problem ist ein begrenzter, doch er ist gerade deshalb interessant. „Die Zahl der Asylbewerber steigt ziemlich schnell, aber noch reichen unsere Kapazitäten aus“, sagt Märtens.
Er ist Sozialdezernent in Leverkusen. Die Stadt zwischen Köln und Düsseldorf ist mit dem Nürnberger Nachbarort Fürth ganz gut zu vergleichen. Beide Städte haben eine ähnliche Größe, auch die Immobilienmärkte ähneln sich. Nachfrage und Mieten steigen, wenn auch nicht auf das Niveau der benachbarten Zentren. Umso unterschiedlicher ist die Lage der Flüchtlinge in den beiden Kommunen.
Unterbringung im Möbelhaus
Der Läusealarm führt Frau Vogelreuther an den Nordrand der Stadt, wo Autobahn und Autohäuser ein unwirtlich rauschendes Stillleben bilden. Hier steht das ehemalige Möbelhaus des Unternehmens Höffner, nur an einem verblassenden Schild über dem Eingang („Hier geht’s zu den besten Preisen“) ist das noch zu erkennen.
Das Gelände ist mit einem Bauzaun umzingelt. Eine typische Brache, wären da nicht zwei Kinder, die mit der Automatiktür spielen. Auf, zu, auf, zu, immer wieder. Ein junger Mann vollführt auf dem Parkplatz Kampfsportübungen.
Ein echter Glücksfall
„Mit der Herrichtung des Möbelhauses konnten wir all die Menschen unterbringen, die uns zugewiesen wurden“, sagt Amtsleiterin Vogelreuther. 300 Menschen leben in dem Gebäude, und aus Sicht der Stadtverwaltung ist der fast fensterlose Kasten ein echter Glücksfall. Der Inhaber zog einen neuen Boden ein, stattete das Gebäude mit Stockbetten und Beleuchtung aus. In wenigen Tagen, auf eigene Rechnung.
Um ein wenig Privatsphäre zu simulieren, sind mithilfe von Bauzäunen jeweils vier Stockbetten zu einem Schlafraum abgegrenzt. „Das ist richtig gut geworden“, sagt Vogelreuther. Man kann das zynisch finden – oder daraus rückschließen auf die Zustände in anderen Unterkünften.
Länder mit der niedrigsten Aufnahmequote (2014)
Irland
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 920
pro 100.000 Einwohner: 20
Litauen
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 400
pro 100.000 Einwohner: 14
Slowenien
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 270
pro 100.000 Einwohner: 5
Spanien
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 10
pro 100.000 Einwohner: 4.485
Lettland
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 195
pro 100.000 Einwohner: 10
Slowakei
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 440
pro 100.000 Einwohner: 8
Rumänien
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 1.495
pro 100.000 Einwohner: 8
Estland
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 95
pro 100.000 Einwohner: 7
Tschechien
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 695
pro 100.000 Einwohner: 7
Portugal
Zahl der Aufnahmen...
insgesamt: 500
pro 100.000 Einwohner: 5
In Leverkusen stehen in den Möbelhäusern nur Möbel, für die Menschen gibt es hier Wohnungen. Dabei musste die Industriestadt am Rhein im August gut 400 Flüchtlinge aufnehmen, rund 50 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. „Die Vorlaufzeit, mit der wir über Zugänge unterrichtet werden, beträgt meist nur ein paar Tage“, berichtet Sozialdezernent Märtens.
Neuankömmlinge landen zunächst in einer zentralen Gemeinschaftsunterkunft, von dort werden sie innerhalb weniger Wochen in Wohnungen vermittelt, wo sie für die Restdauer des Asylverfahrens bleiben. Massenunterkünfte für die Langfristunterbringung gibt es nicht.
„Leverkusener Modell“ heißt das, Flüchtlingsexperten ist es bundesweit ein Begriff, seit die Stadt vor zehn Jahren mit einem Schlag ihre Gruppenunterkünfte schloss. Stattdessen bezahlt sie zwei Mitarbeiter, die den Flüchtlingen bei der Wohnungssuche helfen. „Sollte sich der Zustrom weiter erhöhen, dann werden auch wir neue Gruppenunterkünfte einrichten müssen“, räumt Märtens ein. „Wir haben in dieser Woche unsere Kapazitätsgrenze erreicht.“
Schlagbaum und Schlange
Dass sich die vermeintlich ähnlichen Städte Fürth und Leverkusen so deutlich unterscheiden, zeigt, dass nicht der Flüchtlingsstrom an sich schuld ist an den chaotischen Zuständen – sondern der Umgang mit den Asylsuchenden. Die Verantwortung für die Unterbringung liegt grundsätzlich bei den Ländern, und auf dieser Ebene liegen auch die Ursachen für die meisten Probleme. Einmal wöchentlich zeigen die sich derzeit am eindrucksvollsten: montags, neun Uhr in Deutschland.
Denn das komplexe System der Unterbringung hat einen Flaschenhals, der um diese Uhrzeit besonders eng ist: die Erstaufnahmestellen. Wenn montags die Registrierungsstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) öffnen, wachsen die Schlangen.
Eine verschlossene Tür, ein heruntergelassener Schlagbaum und zwei Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, so werden die Neuankömmlinge im Dortmunder Stadtteil Hacheney begrüßt. Auf dem ehemaligen Gelände einer Gehörlosenschule befindet sich eine der beiden Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen. Ein Schild weist den Weg zum Anmeldebüro. Vor der Tür liegen Plastiktüten mit Kleidung, ein paar veraltete und abgenutzte Koffer und zusammengerollte Isomatten. Gut zehn Leute stehen auf dem Gang, weitere 25 Asylsuchende drängen sich in einem kleinen, kahlen Zimmer. Es herrscht Betrieb, aber kein Chaos.
Theoretisch hervorragend, praktisch desaströs
Grundsätzlich stehen Asylbewerbern zwei Wege offen, um ihr Begehren vorzutragen. Sie können sich an die Polizei wenden oder an die Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer (siehe Grafik). Der Unterschied liegt allein darin, dass sie in ersterem Fall von der Polizei zur nächstgelegenen Erstaufnahme gebracht werden. Dort gibt es dann Außenstellen des BAMF, dessen Beamte die Bewerber registrieren. Damit beginnt der Prozess der Unterbringung, der theoretisch hervorragend geregelt ist – und praktisch täglich scheitert.
In der Theorie verteilt das BAMF die Flüchtlinge gleich bei der Ankunft mittels eines IT-Systems, das den hoffnungsvollen Name „Easy“ trägt, auf die Bundesländer – entsprechend der Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft. Dort bleiben die Asylbewerber bis zu drei Monate in den Erstaufnahmen, sodass die Anhörung im Asylverfahren dort stattfinden kann. Danach geht es in die Kommunen, wo die Bewerber den Ausgang des Verfahrens abwarten.
Bayern: Anlaufstelle Nummer 1
In der Praxis hakt es im System schon an Punkt 1, Registrierung und Verteilung. In Zirndorf bei Nürnberg ist die Polizei bereits morgens in Position. Drei Mannschaftswagen stehen vor dem Eingangstor der Erstaufnahme, auf dem Innenhof drängen sich mindestens 50 Menschen vor der Kantine. Auf der schmalen Freifläche neben den vier Gebäuderiegeln sind weiße Bierzelte aufgebaut, wie man sie von Volksfesten kennt. Bald kommt der erste Bus, das Tor öffnet sich kurz, schließt dahinter schnell wieder. Wieder 60 Menschen mehr, die sich auf dem Innenhof drängen. Die ehemalige Kaserne ist für 650 Menschen ausgelegt, im Moment übernachten dort 1200. Der Bus kommt aus einer der Not-Außenstellen, welche die Bezirksregierung Mittelfranken rund um Zirndorf eingerichtet hat; eine davon ist das Möbelhaus in Fürth.
In Bayern melden sich zurzeit so viele Flüchtlinge, dass das Bundesamt mit der Registrierung nicht nachkommt. Denn die Asylbewerber kommen entsprechend ihrer Reiserouten und Präferenzen an. Das hat zwei Folgen: Im Süden, in Berlin und den Großstädten im Westen ist der Zulauf besonders hoch. Das heißt zwar nicht, dass diese Länder überproportional viele Flüchtlinge aufnehmen, aber schon, dass sich hier besonders viele melden. Solange Easy aber nicht gesprochen hat, muss Bayern die Flüchtlinge bei sich behalten. In den Notlagern werden die Menschen versorgt, für die Registrierung zu den BAMF-Außenstellen in Zirndorf und München gebracht. Das kostet Zeit. Bloß: Auch für die bayrische Regierung sind diese Ströme an sich nichts Neues.
„Die Regierung hat den Kopf in den Sand gesteckt, als der wachsende Flüchtlingsstrom längst absehbar war“, klagt Sozialamtsleiterin Vogelreuther. Sie erinnert sich gut an das Jahr 2010. Im Frühling wies die Bezirksregierung die Kommune an, eine große Gemeinschaftsunterkunft zu schließen, sie werde nicht mehr gebraucht. „Dabei war längst absehbar, dass die Zahl der Flüchtlinge wieder steigen würde“, so Vogelreuther. Nur Monate später folgte die Kehrtwende: Die Stadt wurde aufgefordert, neue Unterkünfte zu benennen. Da waren die Gebäude längst verkauft. An diesem Beispiel zeigt sich nicht nur, wie schlecht die Planung in manchen Bundesländern läuft, sondern auch, wie spezielle bürokratische Strukturen die Organisation lähmen. Grundsätzlich gilt: Je mehr die Kommunen zu sagen haben, desto besser klappt es.
Große Ausgaben in Bayern
In keinem anderen Bundesland ist die Unterbringung von Flüchtlingen so hierarchisch geregelt wie in Bayern, mit Abstrichen gilt das für Baden-Württemberg. Wie in allen Bundesländern gibt es zwar eine Quotenregelung, mit der die Flüchtlinge über das Land verteilt werden.
Auf die Zuweisungen selbst haben Städte und Gemeinden aber kaum Einfluss. Die Bezirksregierungen tragen die Kosten, entscheiden dafür aber auch allein, welche Unterkünfte zum Zug kommen. Sie sollten mindestens 50 Plätze bieten, Privatwohnungen sind grundsätzlich unzulässig, außer die Flüchtlinge bezahlen selbst.
Die Kommunen haben kein Mitspracherecht, sondern nur die Pflicht, Vorschläge zu machen. Auf dem Papier geht es den Asylbewerbern in Bayern dann so gut wie nirgendwo sonst: Der Freistaat gibt besonders viel Geld für Flüchtlinge aus, 2014 werden es 220 Millionen Euro sein, Nordrhein-Westfalen kommt mit 110 Millionen Euro aus. Auch sieben Quadratmeter Schlaffläche pro Person sind im Vergleich groß bemessen.
Standards bröckeln
„Die Vorgaben der Regierung sind so hoch, dass die meisten unserer Vorschläge abgelehnt werden“, sagt Vogelreuther. Die Bewerber aber laufen trotzdem auf. Die Regierung setzte deshalb in den vergangenen Monaten verstärkt auf das Mittel der Zwangszuweisung: Wenn nicht genug Plätze da sind, bekommen die Städte einfach Personen zugewiesen – Standards spielen dann keine Rolle mehr.
Sozialdezernentin Vogelreuther muss dann nehmen, was sie auf die Schnelle bekommen kann, mietet Pensionen und Monteursunterkünfte an. Nachdem sie die Notlager wie im Möbelhaus verlassen haben, müssen die Flüchtlinge dort zu siebt oder acht in einem Raum ausharren, bis über den Asylantrag entschieden ist – was Jahre dauern kann. Das ist unmenschlich, teuer obendrein.
Bei Michaela Vogelreuther rief vor einiger Zeit ein Makler an, um den Kontakt zu einem Investor aus Singapur zu vermitteln. „Der wollte hier Immobilien kaufen, um sie an uns zu vermieten“, erinnert sie sich. Er hatte von einem Tagessatz von 60 Euro gehört. Vogelreuther wimmelte ihn ab, sagt aber auch: „Auf dem Land sind solche Preise durchaus möglich.“ Wo es nur eine Handvoll Pensionen gibt, die überhaupt gemietet werden können, bleiben den Gemeinden kaum Optionen.
Dass es auch anders gehen könnte, zeigt sich in Rheinland-Pfalz. Auch hier ist die Erstaufnahme überlastet, auf Zelte und andere Notlager konnte bisher aber verzichtet werden. Bereits 2012 hat das Land begonnen, die Erstaufnahmestelle in Trier zu erweitern, im Februar konnte eine neue Unterkunft bezogen werden.
Anfang 2015 öffnet wohl eine weitere Außenstelle des BAMF, das kleine Rheinland-Pfalz hätte dann so viele Registrierungsstellen wie Bayern. „Wir haben die Schätzungen des BAMF und den gleichzeitig in unserer Erstaufnahmeeinrichtung registrierten Anstieg der Flüchtlingszahlen immer sehr ernst genommen“, sagt Integrationsministerin Irene Alt (Grüne), „daher kommen wir mit den derzeitigen Flüchtlingszugängen relativ gut zurecht.“
Von einer besonderen Betroffenheit einzelner Bundesländer will sie nichts wissen: „Die Aufgabe der Flüchtlingsaufnahme ist auf alle Länder nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl gleich verteilt – die geografische Lage eines Bundeslandes spielt keine Rolle.“
Versagen ist punktuell
Auch die Unterbringung in den Kommunen gelingt in Rheinland-Pfalz fast flächendeckend, gerade weil das Land keine Vorgaben macht. Die Ministerin rät lediglich dazu, Wohnungen zu mieten, statt Großunterkünfte zu bauen. Dass die Städte sich daran halten, hat einen pragmatischen Grund: Es ist billiger.
Anders als Bayern übernimmt das Land Rheinland-Pfalz keine Kosten, sondern stellt den Kommunen eine Pauschale zur Verfügung. Wie sie damit klarkommen, ist ihre Sache.
Natürlich gibt es auch aus Bundesländern, in denen die Unterbringung den Kommunen überlassen ist, Negativbeispiele. Gerade dann, wenn die Zuschüsse des Landes niedrig sind, wie es in Nordrhein-Westfalen der Fall ist. Doch in diesen Ländern ist das Versagen punktuell, nicht flächendeckend.
Länderübergreifend hingegen ist auffällig, wie viele Fehler durch mangelhafte Kooperation gelöst werden könnten.
Lageso, das klingt nach einem dieser Markenartikel der Wirtschaftswunderzeit, wie Haribo oder Eduscho, ein Eis am Stiel könnte so heißen. Doch das Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso, ist eine gewittergraue Waschbetonfestung, zehn Stockwerke hoch, auf einem ehemaligen Krankenhausgelände in Berlin-Moabit.
Hier empfängt die Hauptstadt ihre Asylbewerber. Auf einem asphaltierten Vorplatz gibt es seit Kurzem zusätzliche Containerbüros, um mehr Asylsuchende gleichzeitig bearbeiten zu können. Davor eine Schlange. Drinnen im Amt weitere Schlangen. Der Chef des Lageso, Franz Allert, wird von manchem Kollegen mittlerweile mit folgendem Satz begrüßt: „Mit dir will ich nicht tauschen.“
In Moabit kommen zurzeit pro Monat so viele Flüchtlinge an wie 2007 während des gesamten Jahres. Allert und seine Mitarbeiter müssen jetzt innerhalb Wochen neue Betten zu Hunderten organisieren. Sie fahnden nach ungenutzten Schulen, Kasernen, Polizei-Wohnheimen oder anderen irgendwie geeigneten Behausungen.
Ideal für eine Umnutzung wären leer stehende Seniorenheime, aber so etwas gibt es in Berlin quasi nicht mehr. „Groß-Unterkünfte sind immer nur die zweite Wahl“, findet Allert. Aber anders, das macht er auch deutlich, werden die Ströme in Berlin kaum zu bewältigen sein.
Die Sache ist nur: Es stimmt nicht ganz. Nicht weit entfernt im Brandenburger Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt sind noch Plätze frei. In Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind es jeweils mehr als 100. Während die Unterkünfte in Bayern (103 Prozent) und Hamburg (116 Prozent) überbelegt sind, ist in Mecklenburg-Vorpommern (–24 Prozent) und Thüringen (–18 Prozent) noch jeder fünfte Platz frei.
Insgesamt sind 11 der 16 Erstaufnahmen überlastet, doch nur in vier Ländern ist die Kapazität um mehr als 50 Prozent überschritten. Doch das merkt in der deutschen Bürokratie keiner. Das Easy-System kennt nur den regulären Länderschlüssel; dass fast alle ostdeutschen Länder noch Kapazitäten haben, während anderswo selbst die Zelte überquellen, sagt es nicht.
Als vor zwei Wochen die Aufnahmeeinrichtungen in NRW wegen Masern vorübergehend geschlossen werden mussten, sprach die Regel: zum nächstgelegenen Erstaufnahmelager schicken. So fuhren drei Busse nach Gießen, ins übervolle Aufnahmelager des Landes Hessen.
Nichts ist einfach in diesem System, weil vieles so Easy ist.