Attentate "Wir sehen kein Radikalisierungsrisiko unter jungen Flüchtlingen"

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Menschen ködern, die entwurzelt sind

Laut Schätzungen gibt es 9000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, von denen niemand weiß, wo sie sind …

Die Zahl könnte noch viel höher, aber auch viel niedriger sein. Aber noch mal: Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Kinder und Jugendlichen per se in irgendeiner Weise eine besondere Gefahr für die Gesellschaft sind. In meiner Arbeit fallen die unbegleiteten Flüchtlingskinder sogar am wenigsten auf. Es sind viel mehr diejenigen auffällig, die hier geboren und aufgewachsen sind.

Was ist der Auslöser?

Warum ein Mensch sich plötzlich radikalisiert, ist immer spezifisch. Es gibt Tausende Gründe, wieso das geschieht. Viele Faktoren bedingen sich gegenseitig. Da gibt es etwa den Jugendlichen, der auf Identitätssuche ist und sich religiöse Fragen stellt, die ihm in der Familie niemand beantworten will. Ernst genommen fühlt er sich erst von Gleichaltrigen aus der salafistischen Szene. Wenig später ist er davon überzeugt, dass Muslime weltweit verfolgt werden und die Demokratie und der Islam nicht zusammenpassen.

Oder wir hatten diesen Fall eines Mädchens, das erst ihren Vater verliert, in eine persönliche Krise stürzt und von der Szene aufgefangen und vereinnahmt wird. Plötzlich steht sie vor der Ausreise nach Syrien. Was alle Fälle eint: Die Menschen hatten sichtbar Probleme, doch niemand aus ihrem Umfeld hat ihnen geholfen.

Was die Fälle noch gemeinsam haben: Jugendliche sind religiöse Analphabeten. Sie haben keine Ahnung von den Werten ihrer Religion und sind damit für extremistische Salafisten die besondere Zielgruppe, weil man sie leicht von den eigenen, vermeintlich wahren Werten des Islams überzeugen kann.

Was macht die Ideologie des IS für junge Menschen überhaupt attraktiv?

In dieser Szene werden immer emotionale Bedürfnisse befriedigt: Geborgenheit und Gemeinschaft etwa. Damit ködert man Menschen, die entwurzelt sind. Erst dann beginnt die Ideologisierung und Manipulation. Einmal von der radikalen Gruppe eingenommen, können die Jugendlichen sich nicht mehr distanzieren.

Die Gruppe stillt alle emotionalen Bedürfnisse, die die Gesellschaft nicht stillen konnte. Das betrifft Menschen, die hier groß geworden sind, Menschen, die hier leben, Menschen, die zugezogen sind, die deutsch sind oder nicht – völlig egal.

Was kann man dagegen tun?

Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten auf Problemlagen von jungen Menschen schneller reagieren als wir als Gesellschaft. Sonst drohen sie, uns verloren zu gehen. Sind sie einmal in der Szene, müssen wir alles daran setzen, sie wieder herauszuholen. Meine praktische Arbeit zeigt: Das ist möglich, egal wie übel die Lage auch aussehen mag.

Dieser Artikel ist zuerst auf Zeit.de erschienen.

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