Auf eine Geburtstagszigarre mit… Ludwig Erhard „Alle Zwangsformen der Wirtschaft sind im Grunde genommen unmoralisch“

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„Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke“

.. und seien an aktiver Sozialpolitik nicht übermäßig interessiert.
Ich fühle mich nicht als Interessenvertreter der besitzenden Schichten, insbesondere nicht als Interessenvertreter der Industrie oder des Handels. Eine solche Annahme wäre völlig irrig. Verantwortlich zu sein für die Wirtschaftspolitik heißt, Verantwortung gegenüber dem ganzen Volk zu tragen. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir die schweren Probleme, vor denen wir stehen, nur lösen können, wenn es uns gelingt, mit der Marktwirtschaft nicht etwa nur einzelne Schichten zu begünstigen, sondern der Masse unseres Volkes durch höchste Anstrengung und immer mehr gesteigerte Leistung einen würdigen Lebensstandard zu sichern und diesen fortlaufend zu bessern.

Welche Art von Sozialstaat schwebt Ihnen denn vor?
Ich bin erschrocken, wie übermächtig der Ruf nach kollektiver Sicherheit im sozialen Bereich erschallte. Falls diese Sucht weiter um sich greift, schlittern wir in eine gesellschaftliche Ordnung, in der jeder die Hand in der Tasche des anderen hat. Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein.

Viele Politiker und auch manche Ökonomen würden die Schuldenbremse des Grundgesetzes gerne aufweichen, Zukunftsinvestitionen auf Pump finanzieren und Sozialleistungen erhöhen. Finden Sie das gut?
Jeder Versuch, im Zeichen vermeintlicher Wohlfahrt aus wohltätiger Gesinnung mehr Geld auszugeben, als dem Fiskus aus Einnahmen zufließt, verstößt gegen gute und bewährte Grundsätze. Der sozialen Fürsorge ist auch nicht damit gedient, durch immer höhere Steuerbelastungen die Produktivität zu schmälern oder auch durch fragwürdiges Finanzgebaren die Volkswirtschaft immer stärker zu verschulden. Auch diese Schulden müssen einmal zurückgezahlt werden.

Konjunkturell gibt es gerade vor allem eine Sorge – die stark steigende Inflation. Übertreiben die Mahner?
Das Bemühen um ein stabiles Preisniveau steht an der Spitze der wirtschaftlichen Rangordnung. Wir alle sollten uns bei jeder Entscheidung dieser schweren Verantwortung bewusst sein, handelt es sich dabei doch um eine Aufgabe, die keine Regierung zu keinem Zeitpunkt als endgültig gelöst ansehen kann. Eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung kann sich nicht allein am Wachstum, sondern muss sich nicht minder auch am Ziel der Stabilität der Währung orientieren. Die soziale Marktwirtschaft ist ohne eine konsequente Politik der Preisstabilität nicht denkbar. Nur diese Politik gewährleistet auch, dass sich nicht einzelne Bevölkerungskreise zulasten anderer bereichern. Solche Versuche haben gerade in jüngster Vergangenheit vielfache Ausprägungen erfahren.

Was meinen Sie damit?
Hier seien zum Beispiel die Vereinbarungen der Sozialpartner erwähnt, deren Effekt bereits dahin geführt hat, dass Lohnerhöhungen den Produktivitätsfortschritt übersprungen haben und damit gegen den Grundsatz der Preisstabilität verstoßen.

Tarifpolitik, gutes Stichwort. Mögen Sie Gewerkschaften?
Ich weiß sehr wohl, dass wir in den Mitteln, in den Verfahren, nicht immer einer Meinung sind. Aber das eine möchte ich ganz deutlich herausstellen. Dass wir in den materiellen Zielen ganz bestimmt einiggehen – nämlich dem Ziel, der deutschen Wirtschaft zu dienen. Wenn ich sage, der deutschen Wirtschaft, dann meine ich hier nicht etwa nur die Industriellen, die Händler, die unternehmerischen Berufsstände, sondern ich meine den wirtschaftenden Menschen in seiner Gesamtheit.

In der Tarifpolitik sind auch Arbeitszeitverkürzungen wieder en vogue. Die Linkspartei fordert gar die 30-Stunden-Woche. Kann es sich das Industrieland Deutschland leisten, weniger zu arbeiten?
Lassen Sie mich ein offenes Wort sprechen: Wir müssen uns entweder bescheiden oder mehr arbeiten. Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstandes.

Allerdings verändert sie sich gerade dramatisch. Die Digitalisierung führt vielfach zu einer Disruption der Arbeitswelt. Was bedeutet das für die Politik?
Der technische Fortschritt im Bereich der Wirtschaft wird mehr und mehr auch zu einem bildungspolitischen Problem. Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften wird mehr und mehr fühlbar. Je moderner und fortschrittlicher Wirtschaft und Technik sind, umso breiter und tiefer müssen Bildung und Erziehung der Menschen angelegt und ausgerichtet sein, damit der Fortschritt uns nicht erdrückt, sondern wir ihn bewältigen. Je komplizierter die technischen Apparaturen und das Zusammenspiel der Kräfte in der Wirtschaft werden, umso höher wachsen die Anforderungen, die auf manuellem, geistigen und auch auf charakterlichem Gebiet an den Menschen gestellt werden.

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Blicken wir auf die Welt und die Globalisierung. Wie gefährlich ist der weltweit steigende Protektionismus für unseren Wohlstand?
Liberalisierung wie Multilateralisierung eröffnen den Weg für einen ökonomisch vernünftigen Lauf des Warenstroms. Diese freiheitlichen Grundsätze dürfen auch bei der Anwendung der sonstigen Instrumente des Außenhandels nicht verleugnet werden. Darum habe ich seit Langem den Abbau aller Exportvergünstigungen angestrebt. Subventionen dieser Art sind, in welcher Form sie auch immer auftreten mögen, zu missbilligen, weil sie fast notwendig Zwietracht und Misstrauen auslösen müssen. Das Verlangen nach Beseitigung aller Handelshemmnisse muss naturgemäß auch in der Zollpolitik seinen Niederschlag finden.

Was bedeutet das für den eskalierenden Konflikt zwischen dem Westen und China?

Je weniger der Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den Staaten als Instrument staatlicher Politik gehandhabt wird, desto geringer ist auch die Gefahr einer Vergiftung der internationalen Atmosphäre.

Quellen:
 * Rede auf dem Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbunds, 12. Oktober 1949
* Rede auf dem Bundesparteitag der CDU in Goslar, 22.10.1950

  • Wohlstand für alle, Erstauflage 1957, Anaconda-Verlag 2009
  • Rede vor dem Schweizerischen Institut für Auslandsforschung in Zürich, 20.3.1956
  • Radioansprache zur wirtschaftspolitischen Lage am 15. September 1956
  • Gastbeitrag für „Der Volkswirt“, Ausgabe 33, 17.8.1957
  • Rede in der Stadthalle Heidelberg am 17.5.1961
  • Rede vor dem evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU in Hamburg, 2. Juni 1961
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