Aufbruch für Deutschland Wenn nicht jetzt gründen, wann dann?

Miriam Wohlfahrt und Valentin Stalf

Deutschland steckt irgendwo zwischen dem zweiten und dritten Lockdown fest. Depression macht sich breit. Genau jetzt wäre die Gelegenheit, mutig zu sein und etwas Neues zu wagen. Plädoyer für eine neue Gründerzeit.

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Miriam Wohlfahrt gründete und führt die Fintechs Ratepay und Banxware. Valentin Stalf ist Gründer und CEO der Digitalbank N26.

Miriam gründete ihr erstes Unternehmen Ratepay während der Finanzkrise, ihr zweites Unternehmen Banxware in der Coronakrise. Valentin wiederum hat mit der N26-Gründung den Reputationsverlust und das Innovationsvakuum der Banken genutzt, um eine neue, innovative Retailbank zu erschaffen. Wir finden: Insbesondere die momentane Krise ist eine große Chance für Neugründer.

1. Gesellschaft und Kundennachfrage verändern sich
Miriam: Als wir Ratepay damals in der Finanzkrise gegründet haben, sind viele der großen Plattformen entstanden oder groß geworden, zum Beispiel Uber, der App Store oder Spotify. Firmen wie Airbnb oder Uber wurden aus einem Mangel heraus gegründet, denn die armen Schlucker im Silicon Valley hatten schlicht und ergreifend kein Geld für Hotels oder Autos.

Auch die Coronakrise wirkt als Katalysator. Wie unter einem Brennglas wird deutlich, in welchen Bereichen der Wirtschaft es hapert, welche Geschäftsmodelle ausgedient haben und welche nicht. Politiker sind wach, hungrig, gesprächsbereit. Sowieso findet man gerade mehr Leute, die bereit sind, sich mit neuen Ideen zu beschäftigen und im Homeoffice genug Zeit und Fokus dafür haben.

2. Etablierte Berufe verlieren an Attraktivität
Miriam: Anfang der 2000er Jahre habe ich bei der Royal Bank of Scotland gearbeitet, die später während der Finanzkrise bankrott ging. Der Beruf des Bankers hat damals schlagartig an Attraktivität verloren, gleichzeitig wurde klar, wo die Reise der Finanzbranche hingeht: ins Internet. Deswegen habe ich als nächstes beim Online-Zahlungsdienstleister Ogone angeheuert, auch wenn das Unternehmen kaum bekannt und prestigeträchtig war. Mit den Erfahrungen, die ich bei Ogone gesammelt habe, habe ich später Ratepay gegründet. Wäre alles so weitergegangen wie vorher, würde ich wahrscheinlich jetzt irgendwo gelangweilt an einem Mahagonischreibtisch sitzen und meinen vergoldeten Füllfederhalter auf- und zuschrauben.

3. Bestehende Märkte brauchen mehr Anbieter
Valentin: In Krisen entstehen nicht nur neue Geschäftsmodelle, sondern bestehende Märkte diversifizieren sich. Man nehme zum Beispiel die Essenslieferdienste, die seit Beginn der Coronakrise traumhafte Zuwächse verzeichnen. In Österreich gibt es aber gerade mal einen oder zwei Anbieter, die den Markt unter sich aufteilen, in Deutschland verhält es sich ähnlich. Da ist noch sehr viel Platz für weitere Akteure. Alleine der Bedarf, kleine lokale Händler über eine digitale Plattform zu vernetzen, ist plötzlich riesengroß.

4. Etablierte Unternehmen stecken ihr Geld in die Krisenbewältigung
Valentin: Momentan lässt sich mit weniger Geld mehr erreichen. Große Firmen oder Banken mögen enorme Budgets haben, aber je größer ein Konzern ist, desto mehr Geld muss er in die Krisenbewältigung investieren, in Restrukturierungen und die Stabilisierung des Kerngeschäfts. Auch wenn viele Banken bei der Digitalisierung großen Aufholbedarf haben, sind ihre entsprechenden Budgets verhältnismäßig klein. Und davon fließt noch mal ein erheblicher Teil in die Beseitigung technischer Altlasten. Dieses Erbe schleppt ein junges Unternehmen nicht mit sich herum. Wenn wir bei N26 Geld investieren, dann können wir davon einen relativ großen Anteil in die Zukunft unseres Geschäfts stecken.

5. Viel Investorenkapital bei wenig Anlagemöglichkeiten
Valentin: Es ist ein wenig paradox: Einerseits befinden wir uns durch Corona in einer Wirtschaftskrise, andererseits ist extrem viel Liquidität im Markt. Gründern spielt das aktuelle Niedrigzinsumfeld in die Karten. Es zwingt Investoren dazu, ihr Geld auch abseits der traditionellen Anlageklassen unterzubringen. Das Risiko, in ein Start-up zu investieren, mag etwas höher sein, aber bringt im Schnitt eventuell mehr Rendite als die klassische Kapitalanlage. Die Zeiten, wo in solide Bundesanleihen mit 6 Prozent Zinsen investiert wurde, sind vorbei. Auch für den Privatanleger mit einem gewissen Vermögen ist das Investment in ein Start-up interessant, denn er möchte keine Negativzinsen zahlen.

Grundsätzlich fällt aber gerade wieder auf, wie schlecht Europa beim Thema Risikokapital im Vergleich mit den USA oder Asien dasteht. Da macht es sich schon bemerkbar, dass internationale Kapitalgeber nicht reisen können und noch mehr Geld als sowieso schon in ihren Heimatmärkten investieren.

6. Weniger Opportunitätskosten bei der Mitarbeitersuche
Miriam: In einer Krise ist die Chance besonders hoch, gute Leute bei anderen Firmen abzuwerben. Und zwar für weniger Geld, als sie vielleicht verlangen würden, wenn die Wirtschaft brummt. Gerade habe ich mit Banxware ein neues Unternehmen gegründet und da stelle ich wieder fest, wie viele Leute bereit sind, ein Risiko einzugehen und vom etablierten Unternehmen zum Startup zu wechseln, um etwas tolles Neues zu erschaffen. In einer Krise, in der sich alte Gewissheiten zerschlagen, können neue Teammitglieder noch besser über das Produkt, über die sichtbare Marktlücke motiviert werden.

7. Man sieht direkt, ob das Gründungsteam passt
Valentin: Ich weiß noch, wie ich nach dem ersten Gründungsjahr mal mitten am Tag durch Berlin gelaufen bin und ganz erstaunt war, wie viele Leute da unterwegs sind. Als Gründerteam sitzt du gerade am Anfang Tag und Nacht zusammen in deinem Büro.

Mein Co-Gründer Maximilian und ich kannten uns vor der Gründung von N26 schon fünfzehn Jahre lang. So eine solide Vertrauensbasis ist in einer Krise noch mal wichtiger, denn da zeigt sich, wie Menschen unter Stress funktionieren. In jeder Gründungsgeschichte gibt es Stressmomente, wo man sich streitet, auch mal unter die Gürtellinie zielt. Da ist es existenziell wichtig, kurz durchatmen und dann ganz normal weiterarbeiten zu können. Wenn ich mir zusätzlich zu den externen Herausforderungen überlegen muss, ob mein Mitgründer und ich am selben Strang ziehen, dieselben Werte vertreten, wird es schwierig. Wer in der Krise gründet, sollte umso genauer prüfen, ob er den richtigen Partner erwischt hat und im Zweifelsfall lieber schnell getrennte Wege gehen. Nicht umsonst ist das falsche Team der dritthäufigste Grund, warum Start-ups scheitern.

8. Scheitern ist noch weniger schlimm
Miriam: Zu viele Leute haben Angst davor, mit ihrer Gründungsidee zu scheitern, und lassen es dann lieber gleich. Als Arbeitgeberin sage ich, dass ich hundert Mal lieber einen gescheiterten Existenzgründer einstelle als jemanden mit zehn Jahren Konzernerfahrung. Tech-Unternehmen wie wir oder N26 brauchen Mitarbeiter, die innovativ und mutig sind. Wer sich in einer Krise traut, etwas Eigenes aufzubauen, bringt genau die richtige Einstellung mit und zeigt, dass er flexibel und zäh ist. Eine Studie des World Economic Forums verrät, dass in der Arbeitswelt von 2025 vor allem Skills wie eine hohe Lernbereitschaft, innovatives Denken, Stresstoleranz und Lösungskompetenz gefragt sein werden. Das sind klassische Gründerqualitäten.

Der heiße Gründer-Tipp von Valentin: Keine Ausreden suchen! Auch die Coronakrise ist kein Hinderungsgrund, sondern eine Chance. Wer Ausreden sucht, wird immer welche finden: Ich habe keinen Gründungspartner, ich habe so eine tolle Festanstellung. Wer wirklich gründen will, der sollte jetzt loslegen.

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Der heiße Gründer-Tipp von Miriam: Einfach machen und Ansprüche runterschrauben! Ein Unternehmen gründen und dabei in Perfektion erstrahlen, das gibt es nicht. Es ist vollkommen okay, wenn nicht alle Pläne in die Tat umgesetzt werden können, wenn nicht alles hundertprozentig perfekt ist. Gib dir als Gründer mindestens ein Jahr Zeit, bevor du dich entscheidest, weiterzumachen oder aufzuhören.

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