Aufstieg der Nordost-AfD „Horrorszenarien sollte man nicht erwarten“

Die AfD ist tief zerstritten. Dennoch scheint ihr der nächste Wahltriumph sicher: Im Herbst in Mecklenburg-Vorpommern. Ministerpräsident Sellering fürchtet um die Zukunft des Bundeslandes, doch Ökonomen sind gelassen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Das rot-schwarz-regierte Mecklenburg-Vorpommern steht vor schwierigen politischen Verhältnissen, sollte die AfD bei Wahl im September stark abschneiden. Quelle: dpa

Berlin Im September wählt Mecklenburg-Vorpommern ein neues Parlament. Die AfD könnte sogar stärkste Kraft werden. In Umfragen geht es für die Partei nach oben. Nicht einmal der Führungsstreit in der Bundespartei bremst den Aufstieg. Wenige Wochen vor dem Urnengang rangiert die AfD mit 19 Prozent bereits auf Rang drei.

Die anderen Parteien müssen sich auf empfindliche Einbußen einstellen. Der derzeitige Regierungschef Erwin Sellering muss sogar um seine Wiederwahl zittern: Seine SPD steht derzeit nur auf Platz zwei mit 22 Prozent, bei der Landtagswahl 2011 erreichten die Sozialdemokraten noch 35,6 Prozent. Die CDU geht aus der jüngsten Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des NDR mit 25 Prozent als stärkste Kraft hervor. Die Linken stehen bei 17 Prozent und die Grünen bei sieben. Danach folgen die rechtsradikale NPD (vier) und die FDP (drei), die es nicht in den Landtag schaffen würden.

Sellering fürchtet bereits Nachteile für das nordostdeutsche Bundesland, sollte sich der rasante Aufstieg der AfD tatsächlich im Wahlergebnis niederschlagen. Das Land sei wirtschaftlich gut vorangekommen, die Arbeitslosigkeit habe sich in den letzten zehn Jahren halbiert. „Damit muss es weitergehen“, sagte der Sozialdemokrat kürzlich im Interview mit der „Welt“. Doch leider, ärgert sich Sellering, schlügen der Frust und die Probleme aus der Bundespolitik durch. Das habe viel mit der Flüchtlingspolitik zu tun. „Deshalb sage ich: Es geht am 4. September um die Entwicklung Mecklenburg-Vorpommerns, nicht um einen Denkzettel für Berlin.“

Ganz so düster wie Sellering die Lage einschätzt, fällt die Bewertung von Wirtschaftsexperten aber nicht aus. „Inzwischen ist wohl klar, dass die Stärke der AfD in vielen Bundesländern – so auch in Mecklenburg-Vorpommern – vor allem Ausdruck einer tiefgreifenden Politikverdrossenheit ist, also eine verbreitete Unzufriedenheit gegenüber den etablierten Parteien widerspiegelt. Sie kann daher nicht als Beleg für eine starke Verbreitung rechter oder gar rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung interpretiert werden“, sagte der Vize-Chef des Dresdner Ifo-Instituts, Joachim Ragnitz, dem Handelsblatt.

„Insoweit ist auch nicht zu befürchten, dass hohe Stimmanteile für die AfD in Mecklenburg-Vorpommern, wie sie derzeit vorhergesagt werden, zu negativen Auswirkungen auf Investitionen und damit auf die wirtschaftliche Entwicklung führen.“

Unproblematisch sei ein starkes Abschneiden der AfD bei den anstehenden Landtagswahlen aber dennoch nicht, sagte Ragnitz weiter, weil damit die Regierungsbildung erschwert werden könne. „Je nach Ergebnis können sich dann durchaus auch Folgen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Lande ergeben“, erläuterte der Ökonom. „Zum Glück aber ist der Einfluss der regionalen Wirtschaftspolitik auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht so groß wie vielfach vermutet – insoweit sollte man auch keine Horrorszenarien erwarten.“


Historisch höchstes Bruttoinlandsprodukt erzielt

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH), Oliver Holtemöller. „Politische Unsicherheit kann auch ein wirtschaftliches Hemmnis sein, aber nur wenn sie nicht nur kurzfristig eine Regierungsbildung erschwert, sondern tatsächlich zu Instabilität und unkalkulierbaren politischen Entscheidungen führt“, sagte Holtemöller dem Handelsblatt. Gleichwohl könnte die AfD in anderer Hinsicht bremsend wirken.

Die ostdeutschen Bundesländer, so Holtemöller, müssten in der Wirtschaftspolitik umdenken und vor allem auf Investitionen in Köpfe setzen. Dazu gehörten auch Weltoffenheit und das Eintreten in den Wettbewerb um internationale Fachkräfte. „Ich kann mir vorstellen, dass die AfD in dieser Hinsicht ein größeres Hemmnis darstellt als in Bezug auf die Regierungsfähigkeit.“

Negative Auswirkungen auf Investorenentscheidungen erwartet Holtemöller nicht. „Standortentscheidungen von Unternehmen sind in der Regel langfristig orientierte Entscheidungen“, betonte der Ökonom. Relevante Investitionshemmnisse seien in dieser Hinsicht vielmehr die Bevölkerungsentwicklung, Defizite in der Bildung oder in einigen Gegenden die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit bei der digitalen Infrastruktur.

Wirtschaftlich ging es für das ostdeutsche Bundesland in den vergangenen Jahren kontinuierlich bergauf. Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 1,9 Prozent und damit stärker als im deutschen Durchschnitt gewachsen. Laut dem Statistischen Landesamt in Schwerin legte das Bruttoinlandsprodukt bundesweit und auch im Schnitt der alten Länder um 1,7 Prozent zu. In den neuen Bundesländern betrug das Wachstum demnach 1,5 Prozent.

Wirtschaftsminister Harry Glawe (CDU) sagte, mit 39,9 Milliarden Euro sei das historisch höchste Bruttoinlandsprodukt des Landes erzielt worden. „Wir wachsen vor allem im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich.“ Glawe zufolge kamen im vorigen Jahr im Nordosten 9000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze hinzu.

Trotz der positiven Wirtschaftsdaten könnte das Bundesland auf schwierige politische Verhältnisse zusteuern, wenn die AfD tatsächlich so stark abschneiden sollte, wie aktuell prognostiziert. Die Sympathie der Wähler für die Partei ist trotz innerparteilicher Zankereien im Landesverband, aber auch auf Bundesebene scheinbar nicht zu erschüttern.


Kein Rückenwind für die SPD von der Bundespartei

Ursächlich für AfD-Erfolg könnte eine weit verbreitete Unzufriedenheit der Bürger mit der Bundespolitik sein. Die politische Debatte in Mecklenburg-Vorpommern wird jedenfalls wie überall von der Flüchtlingsfrage dominiert.  Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) griff denn auch das Thema bei einer Wahlkampfveranstaltung in Zingst (Mecklenburg-Vorpommern) auf und forderte in der Flüchtlingsfrage mehr Solidarität innerhalb Europas.

Es sei eine Enttäuschung gewesen, als im vergangenen Jahr bei der Ankunft der Flüchtlinge so viele europäische Länder „Uns geht das nichts an“ gesagt hätten, sagte Merkel. Die Türkei mit ihren 75 Millionen Einwohnern habe drei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern gerade mal knapp eine Million. „Da fragt man sich schon, wenn wir immer von unseren Werten reden, wie wichtig uns Menschenleben sind, ob wir da schon unseren Beitrag geleistet haben. (...) Da werden wir weiter darüber sprechen müssen.“

Der Auftritt Merkels zeigt einmal mehr die geringe Bedeutung der Landespolitik in der Vorwahlzeit. Landesthemen zu setzen, fällt den etablierten Parteien schwer, sagte der Politikwissenschaftler Tim Spier von der Universität Siegen (Nordrhein-Westfalen). Spier rechnet aber damit, dass die Dominanz des Flüchtlingsthemas nachlassen wird, selbst wenn die Zahlen wieder anziehen sollten.

Ministerpräsident Sellering dagegen erwartet, dass das Thema länger dominieren wird. „Die Menschen sind beunruhigt, ob die Integration in den nächsten Jahren gelingen kann“, sagte er. „Und wir müssen so ehrlich sein zu sagen: Das wird eine riesige Aufgabe.“ Sellering weiß auch: „Wir können bei der Wahl nur gewinnen, wenn wir Landesthemen setzen.“ Doch damit dringt er bei den Wählern offenbar nicht durch

Und Unterstützung durch die Bundespartei erfährt der SPD-Landeschef ebenfalls nicht. „Zurzeit spüren wir keinen Rückenwind aus Berlin“, sagte Sellering den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Das hat mit dem allgemeinen Frust in der Flüchtlingskrise zu tun, aber auch mit der Situation in der großen Koalition.“ Als Juniorpartner sei es für die SPD nicht einfach, ein klares Profil zu zeigen.

Die Debatte um eine Urwahl des nächsten SPD-Kanzlerkandidaten komme „zur Unzeit“. Die Partei habe einen Vorsitzenden gewählt, der den ersten Zugriff auf die Kanzlerkandidatur habe. „Jetzt künstlich Gegenkandidaten aufzubieten, damit es spannender wird, halte ist nicht für richtig“, sagte Sellering

Ziel der SPD sei es, am 4. September in Mecklenburg-Vorpommern wieder stärkste Kraft zu werden. An die 35,6 Prozent von 2011 werde die SPD allerdings nicht herankommen, sagte Sellering voraus. „Das ist utopisch in Zeiten, in denen wir mit über zehn Prozent für die AfD rechnen müssen.“

Mit dpa

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%