Bagatellfälle verstopfen Notaufnahmen Die eingebildeten Kranken

Deutschlands Krankenhäuser sind überlastet. Das gilt besonders für die Notaufnahmen. Statt Akutfällen landen dort immer häufiger Patienten mit Lappalien. Das zehrt an Ärzten und kostet Milliarden.

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Bagatellfälle verlängern nicht nur die Wartezeiten von Patienten, sondern bescheren den Krankenhäusern auch Verluste in Milliardenhöhe. Quelle: dpa

Mit Blaulicht rollt der Rettungswagen auf den Parkplatz der Notaufnahme eines Krankenhauses in Düsseldorf-Gerresheim. Er hält an, die hinteren Türen öffnen sich. Eine Trage gleitet heraus, darauf ist eine Frau um die 80 geschnallt, die zwar verwirrt, aber gesund wirkt. Einen Moment lang schaut sie um sich, als sei sie nicht von dieser Welt. Erst als ihr dämmert, dass zwei Sanitäter sie in ein Krankenhaus tragen, beginnt sie zu stöhnen. Marion Hoffmann, die Internistin, die die Zentrale Notaufnahme (ZNA) der SANA-Klinik leitet, beobachtet das Schauspiel. Ein Sanitäter drückt ihr die Überweisung in die Hand, darauf steht: „Verdacht auf Fingerfraktur“, das Kästchen „Chirurgie“ ist angekreuzt.

Im Behandlungsraum schaut Hoffmann sich den blauen Zeigefinger der Frau kurz an und sagt: „Den brauchen wir nicht zu röntgen, ich sehe gleich, dass nichts gebrochen ist“. Als Internistin versorgt nicht Marion Hoffmann die Seniorin, sondern der Fachkollege aus der Chirurgie. Der ist genervt, er will sich mit einem solchen Bagatellfall jetzt nicht befassen. Die Frau muss also warten. Für zwei Stunden wird die demente Dame einen Behandlungsraum blockieren, zwischendurch ein paar Mal „Hilfe“ rufen und warten, dass irgendetwas passiert.

Bagatellfälle, das sind Patienten, die mit Schnupfen, Husten oder eben einem Hämatom in die Notaufnahmen kommen und den Ärzten, die sich eigentlich um Notfälle kümmern sollen, Zeit und Nerven rauben. Sie haben sich inzwischen zu einem ernsten wirtschaftlichen Problem für Kliniken entwickelt. Das zeigt ein Gutachten des auf die Gesundheitsbranche spezialisierten Beratungsunternehmens Management Consult Kestermann im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Demnach seien die Notaufnahmen von Krankenhäusern „stark überlastet und unterfinanziert“. Ein Drittel der Patienten gehöre nicht dorthin, sie müssten von niedergelassenen Ärzten behandelt werden. Der Stau führt nicht nur zu langen Wartezeiten. Menschen, die wegen Lappalien in die Klinik gehen, sind teuer. So lagen 2015 die durchschnittlichen Kosten für einen ambulanten Notfallpatienten bei 120, die Erlöse jedoch nur bei 32 Euro, ein Minus von 88 Euro. Mit den Notaufnahmen, so die Studie, machen die Krankenhäuser in Deutschland eine Milliarde Euro Verlust pro Jahr. Das klingt bei einem Marktvolumen von jährlich insgesamt 82 Milliarden Euro nach Peanuts. Doch das täuscht. „Die Krankenhäuser kommen gerade so durch, den einzelnen Häusern tut dieses Defizit richtig weh“, sagt Andreas Beivers, Dekan für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fresenius in München.

Wo Patienten Informationen zu IGeL-Leistungen finden

Denn obwohl die Kliniken teure Diagnostik mit modernen Geräten vorhalten, vergüten die Krankenkassen ihre Leistungen wie den Betrieb normaler, weniger kostenintensiver Arztpraxen. Das kritisiert etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft. „Die Krankenhäuser versorgen schon heute mehr Notfälle als die niedergelassenen Ärzte – zu deutlich schlechteren Konditionen“, sagt der Hauptgeschäftsführer Georg Baum. Dazu fehlt es an Investitionen, was eigentlich Aufgabe der Länder wäre.
Die bringen nach Berechnungen des Krankenhaus Rating Reports 2015 allerdings nur die Hälfte der nötigen Gelder auf, was mit der finanziellen Situation in den Ländern zusammenhängt, meint Beivers. Der Investitionsstau liegt laut der Studie bei 12 Milliarden Euro, bis 2020 könnte der Anteil der Krankenhäuser, die Gefahr laufen, insolvent zu gehen, von 16 auf 27 Prozent steigen.

Es fehlt an Personal, doch das liegt nicht nur an knappen Finanzen. Wenige Ärzte sind laut Beivers bereit, sich in den ungeliebten Notfallschichten aufzureiben. Das gilt für die Ambulanzen der Kliniken wie für die Bereitschaftspraxen der niedergelassenen Ärzte, die den Krankenhäusern die Nichtnotfälle abnehmen sollten. „Die ständige Unterbesetzung kann einen wahnsinnig machen“, sagt Marion Hoffmann. Sie versucht dennoch, das nicht an den Patienten auszulassen. Um die 60 Personen erlebt sie während einer Schicht, die von acht bis 17 Uhr dauert. Davon, schätzt sie, sind nur zehn Prozent echte Notfälle. Dennoch kann sie niemanden wegschicken: Man stelle sich vor, der Patient mit Übelkeit hat doch einen Herzinfarkt.


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